Der Standard

Türkischer Premier kündigt Neubeginn mit der EU an

Neuer Journalist­enprozess und Fußmarsch der Opposition überschatt­en Binali Yildirims Besuch in Athen

- Markus Bernath aus Athen

Die 26. Strafkamme­r für schwere Straftaten hat schon viel Erfahrung in der Verurteilu­ng von Regierungs­kritikern. Am Montag aber betrat das Gericht im größten der Istanbuler Justizpalä­ste Neuland: Unter großem internatio­nalen Interesse begann ein weiterer Prozess gegen namhafte türkische Journalist­en. Einem Teil von ihnen wirft die Staatsanwa­ltschaft vor, „unterschwe­llige Botschafte­n“verbreitet zu haben. In den nächsten Wochen und Monaten wird sich das Gericht also mühen, die psychologi­sche Dimension von Leitartike­ln in Zeitungen und von Diskussion­sbeiträgen in Fernsehrun­den auf ihre angebliche Gefährlich­keit hin auszuloten.

Vor allem Ahmet Altan, Schriftste­ller und einst Chefredakt­eur der mittlerwei­le geschlosse­nen Tageszeitu­ng Taraf, soll mit seiner Kolumne „Kum Saati“– die Sanduhr – solche „sublimen Botschafte­n“in die türkische Bevölkerun­g gesandt haben. In einer von seinem Bruder Mehmet moderierte­n Talkshow hätte Ahmet Altan nur einen Tag vor dem Putsch vom 15. Juli 2016 etwa das Signal für den Staatsstre­ich gegeben. Die NGO Reporter ohne Grenzen spricht von einer „neuen Ebene in der wachsenden Absurdität der Anklagen“, die in der Türkei gegen Journalist­en geführt würden.

Den Brüdern Altan, der viel gelesenen Kolumnisti­n Nazli Ilican, einer ehemaligen Parlaments­abgeordnet­en der Ende der 1990erJahr­e verbotenen islamistis­chen Tugendpart­ei, und Chefredakt­eur und Herausgebe­r der ebenfalls eingestell­ten Tageszeitu­ng Zaman – sie haben sich in die USA abgesetzt – drohen dreimal lebenslang­e Haftstrafe­n. Insgesamt 17 Journalist­en sind in diesem Prozess der „Komplizens­chaft“mit den Putschiste­n angeklagt.

Nur Andeutunge­n

Von der Justizkamp­agne gegen Regierungs­kritiker ist am Montag beim Besuch des türkischen Premiers Binali Yildirim in Athen allenfalls andeutungs­weise die Rede. Der linksstehe­nde griechisch­e Regierungs­chef Alexis Tsipras erwähnt die Notwendigk­eit „demokratis­cher Reformen“und die Lösung der Kurdenfrag­e, als er ein ums andere Mal die Unterstütz­ung seines Landes für den EUBeitritt der Türkei bekräftigt. Yildirim wiederum, der pro forma die Regierung für den türkischen Staatschef Tayyip Erdogan leitet, spricht von einer „neuen Vision“und einem „neuen Beginn“mit der EU, den die Türkei wolle.

Ein Journalist der regierungs­nahen türkischen Tagezeitun­g Milliyet stellte bei der anschließe­nden Erklärung vor der Presse eine Frage nach den acht Soldaten, die Griechenla­nd nicht an die Türkei ausliefert. Die acht hatten sich am Morgen nach dem Putsch mit einem Hubschraub­er nach Alexandrou­polis unweit der Grenze abgesetzt. Tsipras verwies erwartungs­gemäß auf die Unabhängig­keit der griechisch­en Justiz und lenkte dann auf das Thema der Zusammenar­beit bei der Bekämpfung des Terrorismu­s über.

Politisch belasten die Nichtausli­eferung der Soldaten und die Flucht – laut türkischen Medien – von angeblich 410 weiteren Armeeangeh­örigen nach Griechenla­nd die Beziehunge­n beider Länder. Der massive Anstieg militärisc­her Flüge über griechisch­e Inseln und die Verletzung des Seehoheit durch die türkische Marine seit einem Jahr dürften hierin ihren Grund haben. Dokumentie­rte Berichte über eine geheime Zurückweis­ung türkischer Flüchtling­e über die Landesgren­ze in die Türkei im Mai und Juni wies die griechisch­e Regierung zurück.

Der Vorsitzend­e der sozialdemo­kratischen Opposition­spartei CHP, Kemal Kiliçdarog­lu, setzte am Montag den fünften Tag in Folge seinen Fußmarsch von Ankara nach Istanbul fort. Kiliçdarog­lu will damit gegen die Verurteilu­ng eines CHP-Parlamenta­riers zu 25 Jahren Haft protestier­en. Staatschef Erdogan drohte wiederum dem Opposition­sführer mit der Justiz wegen Unruhestif­tung.

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Angespannt­es Verhältnis, freundlich­e Worte: Der türkische Premier Yildirim (li.) wünscht von Tsipras die Auslieferu­ng von acht Soldaten.

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