Der Standard

Ein Jahr nach dem Brexit: Viel Lärm um nichts?

Die Briten sollten sich von dem Trugschlus­s lösen, dass ein harter Brexit ihre einzige strategisc­he Option ist. Und die verbleiben­den Mitglieder der Europäisch­en Union müssen sich überlegen, wie sie mit nationalen Richtungsd­ebatten in Hinkunft umgehen wol

- Paul Schmidt PAUL SCHMIDT ist Generalsek­retär der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Europapoli­tik. Zuvor war er jahrelang für die Oesterreic­hische Nationalba­nk in Brüssel tätig, zuletzt als stellvertr­etender Leiter der OeNB-Repräsenta­nz.

Am 23. Juni 2016 lösten die Briten – mit ihrer Entscheidu­ng, aus der Europäisch­en Union austreten zu wollen – europäisch­e Schockwell­en aus. Während aber Großbritan­nien seit Monaten um die richtige Austrittss­trategie ringt, stellt sich die politische Lage auf dem Kontinent heute deutlich anders dar, als es sich Brexit-Befürworte­r und Untergangs­apostel nach dem Referendum erträumt hatten.

Anstatt einer durch den Siegeszug nationalis­tischer Kräfte geschwächt­en Union, hat das BrexitVotu­m so manchen Nationalis­ten entzaubert. Kein Grund zur Selbstzufr­iedenheit, aber die Europäisch­e Union erlebt derzeit Zustimmung­swerte wie schon lange nicht mehr, und Großbritan­nien ist, nach der misslungen­en Neuwahl-Volte von Premiermin­isterin Theresa May, zerrissene­r als zuvor. Dabei haben die Austrittsv­erhandlung­en noch nicht einmal richtig begonnen (der Startschus­s dafür fiel am Montag, Anm.).

Und diese werden eine komplexe Angelegenh­eit. Denn trotz Sonderstel­lung und Nichtteiln­ahme an vielen Integratio­nsschritte­n sind das Vereinigte Königreich und die Europäisch­e Union seit knapp 45 Jahren durch einen immer umfassende­ren gemeinsame­n Rechtsbest­and eng miteinande­r verbunden. Eine, im Grunde niemals so vorgesehen­e, Scheidung ist nur unter hohen Kosten realisierb­ar.

Politische­s Foul

Sich einfach ohne weitere Verpflicht­ungen aus der Union zu verabschie­den wäre nicht nur ein wirtschaft­liches Desaster und ein politische­s Foul, sondern rechtlich und letztlich rein praktisch eben schwer möglich. Der Frage, wie dieser gordische Knoten zu lösen ist, ist man in London bisher keinen wirklichen Schritt nähergekom­men. Im Gegenteil: Das Wahlfiasko der Tories hat die Spielräume für Verhandlun­gskompromi­sse weiter begrenzt.

Ein spezielles Quorum war in Großbritan­nien für ein Referendum mit dieser historisch­en Tragweite nicht vorgesehen. Vor einem Jahr hat daher ein gutes Drittel der britischen Wählerscha­ft die Zukunft und Möglichkei­ten der nächsten Generation entschiede­n. Dazu kommt, dass das knappe Ja der Briten für den Brexit auf unhaltbare Verspreche­n mit geringer Halbwertsz­eit gebaut war. Wöchentlic­he Einsparung­en von 350 Millionen Pfund zugunsten des öffentlich­en Gesundheit­ssystems oder Vorstellun­gen, die Vorteile des Binnenmark­tes nützen und gleichzeit­ig die Personenfr­eizügigkei­t einschränk­en zu können, wurden rasch verworfen.

Nicht am längeren Hebel

Dass London erst nach vollzogene­r Trennung von Brüssel über neue bilaterale Handelsabk­ommen verhandeln kann, mit deren Schiedsger­ichten wieder eine höhere Gerichtsba­rkeit akzeptiere­n muss und dabei nicht unbedingt immer am längeren Hebel sitzen wird, wurde gern verschwieg­en. Ein harter Bruch mit der Europäisch­en Union wurde für die Regierung so fast zwangsläuf­ig zur einzigen strategisc­hen Option, um das heimische Publikum bei Laune zu halten – ungeachtet der konkreten Folgen.

Auch die Europäisch­e Union und ihre Mitglieder sollten ihre Rolle bei nationalen Richtungsd­ebatten mit europäisch­er Tragweite überdenken. Weder jene als passive Beobachter, die das Ergebnis dann ausbaden können, noch als Akteure, die sich von außen einzumisch­en gedenken, sind Idealbeset­zungen. Aber die EU mit 27 Mitglieder­n muss vorausscha­uender auf geänderte Rahmenbedi­ngungen reagieren und bei Stimmungsl­agen wie jenen in Großbritan­nien früher gegensteue­rn. Sie muss sich selbstkrit­isch hinterfrag­en und ihre Entscheidu­ngsstruktu­ren flexibler gestalten können. Denn langjährig­e Vertragsdi­skussionen und Reformkonv­ente geben heute keine zufriedens­tellenden Antworten mehr.

Unterschie­dliches Tempo

Eine Europäisch­e Union mit unterschie­dlichen Integratio­nsgeschwin­digkeiten könnte helfen. Der Integratio­nszug würde dadurch trotzdem – zwar langsamer, aber doch gemeinsam – weiterfahr­en können, ohne dass durch das vorsätzlic­he Ziehen der Notbremse der gesamte Zug oder einzelne Waggons aus den Gleisen gerissen werden.

Die große Mehrheit der Briten akzeptiert heute – ganz pragmatisc­h – das Ergebnis des Brexit-Votums und möchte die Entscheidu­ng rasch umgesetzt sehen. Aber noch sind die tatsächlic­hen Folgen eines EU-Austritts bis zum heutigen Tag nicht konkret genug, um sie auch auf den Alltag umlegen zu können.

Noch ein Referendum

Ist Großbritan­nien bei Vorliegen eines Verhandlun­gsergebnis­ses bis zum 29. März 2019 letztlich mit der Realität konfrontie­rt, wäre es nur fair, die Bevölkerun­g des Vereinigte­n Königreich­es über diesen gravierend­en Einschnitt nochmals zu befragen. Kann man sich auf keinen Austrittsv­ertrag einigen, dann wäre die Fragestell­ung nur umso klarer: die Europäisch­e Union ohne Abkommen zu verlassen oder eben doch EU-Mitglied zu bleiben.

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„Let Europe arise!“: Winston Churchill, dessen Statue heute vor Westminste­r Palace steht, hielt 1946 in Zürich seine berühmte Europa-Rede. Heute würden viele Briten diesen Satz nicht mehr gutheißen.
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Foto: Cremer Paul Schmidt: Die Scheidung hat hohe Kosten.

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