Lebensmittel für die Armen: Wiener Tafel expandiert
Salat gibt es nur, wenn man auch Käse nimmt: Bei der Wiener Tafel, die aussortierte Lebensmittel an Bedürftige liefert, bemüht man sich, alle Spenden auch anzubringen. Das „Geschäft“läuft, man will weiterwachsen.
Wien – Für Gerard Koops und Rudolf Cseh beginnt die Arbeit um neun Uhr morgens. Sie stellen die leeren Kisten in den Laderaum des weißen Vans, ziehen sich die Warnwesten über und manchen sich auf ihre Tour durch Wien. „Grüß Gott! Habt’s ihr heute was?“, fragt Rudolf Cseh in den Hörer. „Gut, wir kommen.“Gerard Koops und Rudolf Cseh arbeiten ehrenamtlich für den Verein Wiener Tafel, der seit 1999 Lebensmittel vor dem Wegwerfen bewahrt und diese an Obdachlose, Flüchtlinge und armutsbetroffene Menschen verteilt. Der Wagen von Koops und Cseh ist einer von vier, die jeden Tag die Supermärkte und Handelsketten Wiens und Umgebung abklappern, auf der Suche nach Verwertbarem.
Die erste Station führt Koops und Cseh zu einem Hofer in Biedermannsdorf. Im hinteren Teil des Supermarktes öffnet sich das Tor zum Liefereingang. „Das könnt’s alles haben“, sagt eine Mitarbeiterin und verschwindet sofort wieder hinter der Ecke. In den übereinandergestapelten Kartons liegen eingepackt Kirschen, Erdbeeren, Bananen und Orangen. Koops und Cseh suchen die Lebensmittel nach verfaulten Stellen ab. Das meiste können sie mitnehmen. „Vierzig Kilogramm Obst“, schreibt Rudolf Cseh in seinen Notizblock. Das Mindesthaltbarkeitsdatum auf den Verpackungen zeigt den heutigen Tag an. „Das kauft den Geschäften keiner mehr ab“, sagt Koops. „Es ist traurig, wie viel jeden Tag weggeschmissen wird“, fügt Cseh hinzu.
Im Laderaum kühlt eine Klimaanlage die Temperatur auf vier Grad herunter, während das Duo zu seinem nächsten „Kunden“fährt. Bei der Tiefkühllogistik im Industriezentrum Süd bekommen sie acht Kartons mit Käse, mehrere hundert Tramezziniaufstriche, Schaumrollen und Wurstsalat. Beim Lidl in Guntramsdorf Kisten mit Äpfeln, Bananen, Gurken, Brokkoli, Wassermelonen und Pilzen. Beim Metro in Vösendorf Salate, Joghurt, Topfen und Avocados.
Ungefähr tausend bis tausendfünfhundert Kilogramm Lebensmittel kommt so jeden Tag zusammen. Lebensmittel, die es nicht in das Einkaufswagerl geschafft haben, weil sie schon zu alt waren, nicht mehr gut aussahen oder schlicht im Überfluss vorhanden waren.
„Viele verwechseln das Mindesthaltbarkeitsdatum immer noch mit dem Verbrauchsdatum“, sagt Alexandra Gruber, die seit zwei Jahren die Wiener Tafel leitet. Sie steht im Lagerraum des Vereins in Wien-Simmering, um sie herum Dosen mit Paprikasalat, Tomaten und Babynahrung. „Wir haben verlernt, mit den eigenen Sinnen Lebensmittel zu bewerten, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken“, sagt Gruber.
In Österreich landen jährlich rund 700.000 Tonnen Lebensmittel im Müll. Weltweit wird ungefähr ein Drittel aller produzierten Lebensmittel weggeschmissen, wie aus einer Studie der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2011 hervorgeht. In Industrieländern schmeißen die Endverbraucher jährlich pro Kopf im Durchschnitt 110 Kilogramm Lebensmittel in den Müll, Konsumenten in Entwicklungsländern nur ungefähr acht Kilogramm. Dort kommt es allerdings schon auf dem Weg vom Produzenten zum großen Schwund: Mangelhafte Lagerung, Verpackung und Kühlung machen das Essen ungenießbar.
18.000 Menschen versorgt
Gleichzeitig stehe dieser Überschuss auf der einen Seite Armut auf der anderen Seite gegenüber, sagt Gruber. In Österreich gelten laut Statistik Austria 1,18 Millionen Menschen als armutsgefährdet. Durch die Flüchtlingskrise habe sich die Situation weiter verschärft, meint Gruber. Die Wiener Tafel wirkt da fast wie ein Robin Hood moderner Zeiten: Im Vorjahr wurden 18.000 armutsbetroffene Menschen in Sozialeinrichtungen mit den eingesammelten Lebensmitteln versorgt.
So klappern auch Gerard Koops und Rudolf Cseh noch am selben Tag die einzelnen Betreuungs- und Flüchtlingsheime Wiens ab: das Familienwohnheim Kastanienallee, das Flüchtlingsquartier Geigergasse, das Frauenhaus, eine Beratungsstelle für Frauen, das Juca-Haus für Jugendliche, die Gruft und das Haus Gänsbachergasse für Obdachlose. Koops und Cseh wirken dabei wie zwei Feilscher, die ihre Waren so schnell wie möglich wieder loswerden wollen. „Wer Salat nimmt, muss auch Käse nehmen“, sagt Koops. Am Ende des Tages müssen alle Lebensmittel ausgeteilt sein.
In Zukunft sollen die von der Wiener Tafel eingesammelten Lebensmittel aber auch zwischengelagert und sortiert werden können. Auf dem Großmarkt in Inzersdorf gibt es nun eine zweihundert Quadratmeter große Lagerfläche mit Kühlraum und Küche. Damit soll die Menge an verteilten Lebensmitteln in den nächsten drei Jahren von fünfhundert auf tausend Tonnen verdoppelt werden. Florian Aman schiebt die ersten zehn Kisten mit grünen Paprika von einem Nachbarstand zum Lagerhaus. „Unser neues Lager befindet sich gleich gegenüber dem Mistplatz“, sagt Florian und lacht. „Wir sitzen praktisch direkt an der Quelle.“