Bei den umstrittenen Rettern im Mittelmeer
Im Jahr 2016 sind 181.000 Flüchtlinge über die Route Nordafrika–Italien nach Europa gekommen. 5000 sind ertrunken. Die NGO Sea-Watch rettet Bootsflüchtlinge, auch wenn sich immer mehr Kritik an ihrem Tun regt.
Rom/Tripolis – Target! Vier Meilen voraus. Halb Instinkt und halb Erfahrung sagen Reinier Boere an diesem Morgen, dass er richtig liegt. Ein schwarzer Balken am Horizont, die kleinen Punkte, die bald zu Köpfen werden, nach wenigen Minuten die Gewissheit: Das sind keine libyschen Fischer, das ist ein heillos überfülltes Holzboot, vollgepackt mit Menschen. Flüchtlinge aus Libyen.
Noch ist es kühl auf dem Mittelmeer, in der Search-and-RescueZone, 18 Meilen vor der libyschen Küste, auf dem Ausguck der SeaWatch 2. Was Boere an diesem Morgen noch nicht weiß: dass noch vier weitere Boote folgen werden, eines aus Holz, drei aus Gummi; dass bei Sonnenuntergang 274 Menschen an Deck des zivilen Seenotrettungsschiffs sein werden und 121 auf hüpfburgähnlichen Rettungsinseln im Wasser.
Reinier Boere ist 39 Jahre alt, Niederländer, in seinem „normalen“Leben betreibt er einen kleinen Schlüsseldienst in Amsterdam. Draußen auf dem Meer ist er Einsatzleiter und Koordinator der 16-köpfigen Crew der Sea-Watch, einer Berliner NGO, die es sich seit 2015 zur Aufgabe gemacht hat, Flüchtlinge aus Seenot zu retten und die Praktiken der EUPolitik an der Mittelmeer-Außengrenze zu dokumentieren.
Zahl der Flüchtlinge steigt
2016 sind 181.000 Menschen über die Fluchtroute Nordafrika– Italien nach Europa gekommen, 90 Prozent davon über Libyen. 5000 Menschen sind im selben Zeitraum ertrunken. In den ersten Monaten 2017 geht das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) von etwa 2000 Toten aus. Die Zahl der Flüchtlinge steigt: Laut Bild am Sonntag wurden fast 72.000 Neuankünfte über die zentrale Mittelmeerroute bis zum 22. Juni registriert – ein Plus von 27,6 Prozent zum Vergleichszeitraum des Vorjahres.
Zuerst muss Boere einen Notruf absetzen. Einen Notruf an das MRCC in Rom, die zentrale Koordinierungsstelle für Rettungen auf dem Mittelmeer. „Keine Rettung ohne den Auftrag aus Rom. Ohne die Zustimmung der offiziellen Behörde dürfen wir nicht eingreifen“, sagt er. Im Seerecht ist eine „Pflicht zur Rettung“festgeschrieben. Das MRCC allein bestimmt, welche Schiffe in eine Rettung involviert werden, welche Häfen die Schiffe anfahren dürfen, wo die Flüchtlinge an Land gehen.
„Ich glaube, das ist das Verrückteste, was ich je gemacht habe“, sagt Stefanie Pender, als sie auf das schwarz-orange RIB, ein kleines Gummischnellboot, springt. Die 28-jährige Australierin, die in Berlin lebt, ist Ärztin an Bord der Sea-Watch. Es ist ihre erste Mission. Mit 30 Knoten hält das Speedboot auf das Holzboot am Horizont zu, hinterlässt eine Furche aus sprudelndem weißem Schaum in der ruhigen See. Dann ungläubige Freudenschreie, als Übersetzerin Sandra Hammamy, die an der Spitze des Bootes steht, den Flüchtlingen zuruft: „Habt keine Angst! Ihr seid in Sicherheit! Willkommen in Europa!“
Knisternde Wärmedecken
„Wären wir heute nicht hier draußen gewesen“, sagt Boere später, als er durch die Fensterwand der Schiffsbrücke blickt, „wären heute 400 Leute im Mittelmeer ertrunken.“Vor den Fenstern liegen dicht an dicht Menschen. Zusammengekrümmt, kaum ein halber Quadratmeter für jeden von ihnen. Es ist still. Nur das Knistern der gold-silbernen Wärmedecken, in die sich die Menschen gewickelt haben, ist zu hören.
16 Stunden sind inzwischen vergangen, immer wieder versuchen Boere und Kapitän Ruben Lampart Unterstützung aus Rom anzufordern. Das Boot mit seiner maximalen Personenkapazität von 150 Menschen ist mit 274 Leuten an Deck total überladen, kaum mehr manövrierfähig. Doch die Antwort aus Rom lautet: „Negativ.“Keine Hilfe, noch nicht.
Nicht alle in Europa sind von der Arbeit der freiwilligen Helfer auf dem Mittelmeer begeistert. Der italienische Anwalt Carmelo Zuccaro beschuldigte NGOs, auch Sea-Watch, mit Schleppern in Libyen zusammenzuarbeiten. Auch Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat im März gefordert, dass der „NGO-Wahnsinn“gestoppt werden müsse. Die Schlepper würden noch mehr überfüllte Boote von Libyen aus losschicken, wenn sie wüssten, dass diese wenige Meilen vor der libyschen Küste aufgegriffen würden.
Inzwischen geht für die Flüchtlinge zum zweiten Mal die Sonne hinter dem Bug der Sea-Watch unter. 36 Stunden schon sitzen sie auf dem Schiff fest. Trinkwasser wird knapp, Essensvorräte auch, die Stimmung ist angespannt. Gerade musste Einsatzleiter Boere einen Streit um die letzten verbliebenen Wärmedecken schlichten.
Sexuelle-Gewalt-Erfahrungen
An Deck der Sea-Watch sitzt auch Justina. Zitternd. Hat die Knie an ihre Brust gezogen, presst die Lippen zusammen, um nicht loszuweinen, während sie ihre Geschichte erzählt. „Ein Freund von meinem Mann ist in unser Dorf in Nigeria gekommen und hat uns versprochen, dass es in Libyen Arbeit gibt und ein besseres Leben“, sagt sie. Vor 16 Monaten hätten sie Nigeria verlassen, sich auf den Weg nach Libyen gemacht. „Als wir dort waren, haben wir festgestellt, dass wir belogen wurden. Die arabischen Männer kamen mit Waffen, sie haben uns alles weggenommen. Sie haben uns in ein Lager gesperrt. Tagsüber durften wir raus zum Arbeiten. Zu essen gab es nichts als Brot.“
Justina hält inne. „Nachts sind die Männer gekommen und haben die Frauen zu sich gerufen. Nach dem, was sie mit mir getan haben, kann ich nicht mehr normal laufen“, sagt sie, blickt beschämt auf den Boden. Wie viele der Frauen an Bord hat sie Ärztin Stefanie Pender um einen Schwangerschaftstest gebeten. „Wir müssen davon ausgehen, dass all diese Frauen in Libyen sexuelle Gewalt erfahren haben“, sagt Pender.
Wenn Belachew Gebrewold von Pull-Faktoren spricht, dann gibt er sich alle Mühe genau zu unter- scheiden: Was lockt die Flüchtlinge, was lockt die Schlepper? Der Migrationsforscher vom Management-Center Innsbruck versucht in seinem Buch Understanding Migrant Decisions: From Sub-Saharan Africa to the Mediterranean Region (Routledge 2016) zu erklären, warum Menschen ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen. „Ich weiß, für die NGOs ist es ein Schlag ins Gesicht, aber der Pull-Faktor-Vorwurf ist nicht komplett falsch“, sagt Gebrewold. „Solange es Nachrichten gibt von Menschen, die es nach Europa geschafft haben, werden Migranten weiter versuchen, nach Libyen zu gelangen. Davon profitieren wiederum die Schlepper.“
Boere liegt erschöpft auf der blauen Bank in der Messe, wie das Schiffswohnzimmer der SeaWatch genannt wird. 57 Stunden hat es gedauert, bis der letzte Geflüchtete von Bord gegangen ist. Erst ein britisches Kriegsschiff, dann die Vos Prudence, das Seenotrettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen, konnten die Menschen aufnehmen, sie nach Lampedusa bringen. „Einerseits bin ich erleichtert und glücklich, dass wir so vielen Menschen da draußen das Leben retten konnten. Andererseits“, sagt Boere, „ist es einfach nur bizarr, was hier draußen passiert. Wir Freiwilligen werden allein gelassen. Die Politiker versuchen, Symptome zu bekämpfen, aber gegen die Fluchtursachen tut niemand etwas.“
Sichere Wege gefordert
Boere träumt von der Safe Passage, der sicheren Überfahrt. „Es muss endlich sichere Wege geben, um Asyl in Europa zu beantragen.“Aber wie soll das gehen angesichts der unübersichtlichen Kräfteverteilung in Libyen? „Na ja“, sagt Boere, wischt sich mit dem Trainingsjackenärmel Schweiß von der Stirn. „Wenn die EU mit der libyschen Regierung Deals über den Küstenschutz schließen kann, dann kann sie vielleicht auch Behörden einrichten, wo die Menschen Asyl beantragen können.“
Bartholomäus von Laffert hat Sea-Watch zwei Wochen beim Einsatz im Mittelmeer begleitet. Die Reisekosten wurden vom Förderverein der Katholischen Journalistenschule ifp in München übernommen.