Der Standard

Saufen, Schmusen und andere Werte

Seit kurzem sind Flüchtling­e verpflicht­et, Wertekurse zu besuchen. Das Bedürfnis nach Tipps zum Schulsyste­m oder zum Arbeitsmar­kt ist groß. Mit Sanktionen zu drohen wäre nicht notwendig, meinen Flüchtling­shelfer.

- Maria Sterkl

Wien – Die Österreich­er seien gesellige Menschen, sagt Kursleiter Martin Streimelwe­ger, „sie feiern gern, und da gehört Alkohol einfach dazu“. Es sei aber eine Frage der Dosis. „Sich volllaufen zu lassen ist sozial nicht akzeptiert.“Die Besucher des Wertekurse­s im Integratio­nszentrum des Österreich­ischen Integratio­nsfonds (ÖIF) in Wien-Landstraße hören aufmerksam zu. Sie erfahren, dass man Bier und Wein ab 16 Jahren, Schnaps hingegen erst mit 18 Jahren trinken dürfe. Und Cannabisko­nsum, so Streimelwe­ger, sei nicht nur verboten, sondern auch „gesellscha­ftlich nicht akzeptiert, von einer wirklich breiten Masse“.

Wenn die Kinder fragen

Seit zwei Wochen sind Flüchtling­e verpflicht­et, sogenannte Wertekurse zu besuchen. Für die Abwicklung dieser Kurse ist der ÖIF zuständig, der zugleich der einzige Kursanbiet­er ist.

Die Teilnehmer des heutigen Kurses, überwiegen­d Flüchtling­e aus Syrien und dem Irak, scheinen vieles, was hier erzählt wird, bereits zu wissen, sie haben schließlic­h ihr Asylverfah­ren in diversen Regionen Österreich­s abgewartet. Manche Gepflogenh­eiten mussten sie selbst schon anderen erklären. „Meine Kinder haben mich gefragt, warum die Leute hier auf der Straße schmusen“, erzählt eine junge Frau. Dass Zärtlichke­iten nicht nur im Verborgene­n ausgetausc­ht werden, war ihnen neu.

Asylberech­tigten, die den achtstündi­gen Wertekurs nicht besuchen oder ihn nicht abschließe­n, droht eine Kürzung der Mindest- sicherung. Der Gesetzgebe­r ging offenbar davon aus, dass Flüchtling­e nur ein geringes Interesse an den Kursen hätten, und beschloss, sie durch empfindlic­he Sanktionen de facto dazu zu zwingen.

Dem widerspric­ht Angelika Welebil, Leiterin einer DiakonieBe­ratungsein­richtung für Flüchtling­e in Wien-Simmering. „Das Bedürfnis, mehr darüber zu erfahren, wie diese Gesellscha­ft hier funktionie­rt, ist riesengroß“, sagt Welebil. Auch Martina Fürpass, Geschäftsf­ührerin des Interkultu­rellen Zentrums (IZ) Wien, hält es für „wichtig, die Hausordnun­g kennenzule­rnen: Wo melde ich mein Kind für die Schule an, welches Amt ist wofür zuständig“– es gebe einen regelrecht­en Hunger nach solchen praktische­n Tipps. Ein großes Interesse – vor allem am Thema Schule und Arbeitsmar­kt – bemerkt auch ÖIF-Trainer Streimelwe­ger. Viele Fragen gebe es auch zum Modul zur österreich­ischen Geschichte, sagt der Trainer. Wie sich erklären lasse, dass Österreich zur Zeit des Nationalso­zialismus Teil Deutschlan­ds war? Für Überraschu­ng sorgten aber auch die Fotoaufnah­men Wiens aus der Zeit nach der Befreiung: Zerbombte Häuser kennen die meisten aus ihren eigenen Ländern. „Vielen war nicht bewusst, dass der letzte Krieg auch in Österreich gar nicht so lange her ist“, sagt Streimelwe­ger.

Unter Flüchtling­shelfern gibt es aber auch einige Kritik an den Kursen. Während sich praktische Tipps gut in Form eines Kurses vermitteln lassen, sei die Annahme, es gebe typisch österreich­ische Werte, die man vermitteln könne, vermessen, heißt es oft. Zudem ist der achtstündi­ge Kurs mit einem Lehrplan von historisch­en über rechtliche Informatio- nen bis hin zur demokratis­chen Ordnung und Grundwerte­n der Gesellscha­ft ziemlich dicht bepackt. Wirksamer als ein Kurs sei ein Buddy-System, meint Fürpass – also das Bilden von Zweiergesp­annen aus einem Österreich­er bzw. einer Österreich­erin und einer geflüchtet­en Person. Die Vorteile: Der Flüchtling könne Fragen dann stellen, wenn sie auftauchen. Zugleich könne auch der hier geborene Buddy viel von der Partnersch­aft lernen – über das Herkunftsl­and des Buddies, aber auch über Österreich, sagt Fürpass. So werde einigen Österreich­ern erst bewusst, wie manche Bereiche der Bürokratie, „mit denen sie sonst nie in Kontakt gekommen wären“, eigentlich funktionie­ren – und welchen Hürden Flüchtling­e hier oft begegnen.

Apropos Hürden: Während die Lernunterl­agen der Wertekurse viele Erklärunge­n über die Pflich- ten der Flüchtling­e bieten – vom Händeschüt­teln übers Pünktlichs­ein bis zur Pflicht, sich an Sonntagen ruhig zu verhalten –, findet sich nichts über die Rechte der Flüchtling­e im Fall, dass sie Opfer von Diskrimini­erung werden. Sie erfahren zwar an mehreren Stellen, dass Frauen in Österreich nicht benachteil­igt werden dürfen – dass dieses Recht auf Schutz vor Benachteil­igung aber auch für Menschen anderer Herkunft oder Religionsz­ugehörigke­it gilt und wie dieses Recht eingeforde­rt werden kann, wird jedoch ausgespart.

Kritik am „arroganten Unterton“der Wertekursi­nhalte äußert eine Deutschtra­inerin, die beim ÖIF eine Wertetrain­er-Schulung besucht hat, aber aus Angst vor berufliche­n Nachteilen hier nicht genannt werden möchte. Der Kurs sei „geprägt von der Annahme, dass wir die Zivilisier­ten sind, die den Unkultivie­rten beibringen müssen, was Respekt und Sauberkeit ist“. Es sei ein „beschönigt­es Österreich-Bild“, das hier vermittelt werde: „Es wird so getan, als wären alle Österreich­er tolerant gegenüber Homosexuel­len und als wären Frauen hier nicht benachteil­igt.“

Hackler und Industriel­ler

Fürpass erklärt, dass interkultu­relles Lernen immer mit der Frage beginnen müsse, was eigentlich die eigenen Werte seien und wie sie gelebt würden. Auf die Frage, was typisch österreich­isch sei, sagten viele Österreich­er: Neujahrsko­nzert, Schnitzel, Skifahren. „Fragt man dann nach, ob diese Person selbst Skifahren geht oder schon beim Neujahrsko­nzert war, heißt es aber meistens: nein.“Nur wer das Eigene gut kenne, könne auch gut einschätze­n, „wo er sich dem Anderen annähern will und wo nicht“, sagt Fürpass. In Kontakt mit anderen Gebräuchen zu treten „heißt noch lange nicht, dass ich meine Kultur aufgeben muss“. Letztlich habe Kultur viel mit sozialen Schichten zu tun, nicht nur mit Herkunft: „Ein reicher türkischer Unternehme­r hat mit einem Wiener Industriel­len wohl mehr gemeinsam als der Industriel­le mit dem Simmeringe­r Arbeiter.“

 ??  ?? Was in Österreich erwünscht und was verpönt ist, darüber gehen die Meinungen auseinande­r. Im Wertekurs sorgen vor allem praktische Tipps, etwa zum Schulsyste­m, für Interesse.
Was in Österreich erwünscht und was verpönt ist, darüber gehen die Meinungen auseinande­r. Im Wertekurs sorgen vor allem praktische Tipps, etwa zum Schulsyste­m, für Interesse.

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