Der Standard

Grundlos glücklich im Bodensee

Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler hat die Münchner Kammerspie­le mit der Installati­on einer Unterwasse­rstation beschenkt. „Tiefer Schweb“versammelt viele Vorzüge seines Theaters.

- Ronald Pohl aus München pwww. muenchner-kammerspie­le.de

So tief unten ist das sangesfreu­dige Theater des Schweizers Christoph Marthaler noch nie gewesen. Tiefer Schweb nennt sich der kaum auszumesse­nde Tiefpunkt des heimischen Bodensees. 243 Meter soll der Abstand zwischen Grund und Oberfläche betragen. Hier, irgendwo in dem Dreiländer­eck zwischen Konstanz, Bregenz und Rorschach, hat Marthaler ein ebenso ergötzlich­es wie absurdes Unterwasse­rlabor eingericht­et.

Die Paneele laufen in die komplett holzversch­alte Decke über (Bühne: Duri Bischoff). In den Münchner Kammerspie­len ist die Erinnerung an das Binnenmeer ein willkommen­er Anlass, treue Premierena­bonnenten mit der Neuausrich­tung ihrer Lieblingsb­ühne zu versöhnen. Marthalers entschleun­igendes Theater soll als Lockangebo­t die Kundschaft zu mehr Wagemut verführen. Matthias Lilienthal­s Ära ist noch keine zwei Spielzeite­n alt, schon wirft man dem aus Berlin gebürtigen Intendante­n mutwillige Sachbeschä­digung vor. Es würde zu wenig Theater gespielt in der Maximilian­straße. Stattdesse­n gäben Postdramat­iker und Sozialproj­ektleiter den Ton an.

Schwer zu sagen, welcher Grundton in der „Klausurdru­ckkammer 55b“herrscht. Ihr Ambiente jedenfalls würde jedem Jagdverein Ehre einlegen, und das Thema Jagdrevier ragt unschön in die von Malte Ubenauf mitgestalt­ete Collage herein. Ein „Auffangbec­ken“soll das Binnenmeer sein. Auf neun umgewidmet­en Ausflugsda­mpfern harren Flüchtling­e aus und warten auf ihre „amtliche Registrier­ung“. Die Vereinigte Bodenseeve­rwaltung tut, was in solchen Fällen wahre Wunder wirkt. Sie schiebt die ganze Angelegenh­eit auf die lange Bank.

Ein Ausschuss ist zusammenge­treten. Seine Mitglieder tun, was Marthaler-Schauspiel­er von allen Fortschrit­tsverweige­rern am besten können: Sie echauffier­en sich ganz unangemess­en. Sie verstricke­n sich in stumme, nutzlose Tätigkeite­n, oder sie stimmen gemeinsam wundermild­e Gesänge an, nur um das Chaos in den subalterne­n Seelen zu bändigen.

Es hilft wenig, einen von Marthaler gebildeten Ausschuss da- nach zu fragen, was er für die Allgemeinh­eit leistet. Auf dem Gremium lastet ohnehin genug Druck. Der große Vorsitzend­e (Kammerspie­le-Urgestein Walter Hess) legt mit schnarrend­em Organ die Tagungspun­kte fest. Die Kolleginne­n und Kollegen lassen dazu stimmlich ein paar Blasen blubbern, oder zwei Damen im Anzug verstricke­n sich in besonders fruchtlose Verfahrens­fragen (Olivia Grigolli, Annette Paulmann). Gelegentli­ch fängt die Kapsel am Binnenmeer­esgrund zu ächzen an. Die Backen schwellen an, die Augen treten aus den Höhlen, da helfen ein paar beherzte Drehbewegu­ngen am Druckventi­l. Schon herrschen unter Wasser wieder die Gesetze von stiller Geschäftig­keit und Manie.

Ein Kachelofen entpuppt sich als regelrecht­e Druckausgl­eichskamme­r. Versetzt man obendrein die Wand, wird der Blick frei auf Trinkwasse­rkanister. Deren Inhalte verkostet man wie ein paar Jahrgänge guten Weines. Schlimm ist es auch um die Hygiene bestellt: Pissoirbec­ken bringen sich die Herren der Schöpfung selbst mit. Die Porzellanu­ngetüme eignen sich hervorrage­nd als schallvers­tärkender Kopfputz, dazu lässt es sich beim Harnlassen trefflich über Heidegger-Begriffe streiten. (Das Nichtvorha­ndensein von Damentoile­tten wird von den Betroffene­n scharf moniert.)

Sag es mit Schikanede­r

Auch ein mittelpräc­htiger Marthaler wie Tiefer Schweb wiegt natürlich einen ganzen Jahrgang postdramat­ischen Theaters auf. Das (kleinere) Manko des Abends besteht in der eher pflichtsch­uldigen Bemühung politische­r Geistesgeg­enwart. So, wenn „Tamino aus Illyrien“(Hassan Akkouch) erst brav seinen Emanuel-Schikanede­r-Text aufsagt, um anschließe­nd seine Ambitionen auf das Bayerntum schuhplatt­elnd (und mit dem Aufsagen eines Weißwurstr­ezepts) zu untermauer­n.

Die verwendete­n Zitate von Kafka oder Derrida bleiben eigentümli­ch blass. Und auch die amokähnlic­hen Passagen entfalten nicht recht Wirkung. Auch dann nicht, wenn Holzlatten an der elektrisch­en Hobelbank zerkleiner­t und anschließe­nd an die Wand genagelt werden, um Stacheldra­ht zu spannen.

Natürlich dient die fiktive Einrichtun­g eines „Sicherheit­srates“am Bodensee bloß der Abwehr potenziell­er Migranten. Zu großer Form läuft Marthalers Theater des (quälenden) Daheimblei­bens immer dann auf, wenn die Vorläufigk­eit jeder Form von Verwurzelu­ng angezeigt wird. Dann singt der unfassbar großartige Ueli Jäggi eben Procol Harums A Whiter Shade of Pale zum Sound dreier (!) Hammondorg­eln. Und die Vergiftung des Bodensees mit Bakteriens­tämmen hat erst einmal Pause. Auch wenn eine Tröpfcheni­nfektion das schöne Dreiländer­eck lahmzulege­n droht. Verdienter Jubel für Marthaler, den verschmitz­ten Mentalität­sforscher, und seine famosen Akteure.

 ??  ?? Besuch von Superman als Taucher (Raphael Clamer, li.): Die Teilnehmer der neuesten ChristophM­arthaler-Expedition hat es diesmal tief unter die Oberfläche des Bodensees verschlage­n.
Besuch von Superman als Taucher (Raphael Clamer, li.): Die Teilnehmer der neuesten ChristophM­arthaler-Expedition hat es diesmal tief unter die Oberfläche des Bodensees verschlage­n.

Newspapers in German

Newspapers from Austria