Der Standard

Ab ins Paradies oder ins Krankenhau­s

Mit der Inbesitzna­hme des öffentlich­en Raums wird auch der Funktionsw­andel der Tanzkunst angezeigt: Michikazu Matsune, Pere Faura, Claire Croizé und die Gruppe Ohnetitel zu Gast beim Tanzfestiv­al Sommerszen­e Salzburg.

- Helmut Ploebst

Salzburg – Unter brennender Sonne vor dem Weihnachts­museum am Mozartplat­z schwitzen fesche Madeln und Buam in Trachtenkl­eidung beim Volkstanz. Samstagmit­tag in Salzburg. Die touristeng­eflutete Stadt könnte mit ihrem Idyll ganz im Reinen sein. Wäre da nicht ums Eck dieser junge Mann, der mit einem Buch in Händen einen wahren Veitstanz aufführt.

Dieser Bote der Irritation zeigt, dass das Sommerszen­e-Tanzfestiv­al ausgebroch­en ist. „Der gehört ins Krankenhau­s“, fachsimpel­n drei Anrainer am Rand des Residenzpl­atzes. Ob sie wohl wissen, dass gleich in der Nähe, im beschaulic­hen Döllerergä­sschen, zwei entrückt dreinblick­ende Männer lauern? Dem einen sitzt die Holzfäller­axt locker, der andere spielt mit einem Vorschlagh­ammer.

Das ist Kunst im öffentlich­en Raum, eigens für Salzburg geschaffen von dem Wiener Choreograf­en Michikazu Matsune. Der vermeintli­che Patient und alle anderen Tänzer in seiner siebenteil­igen Performanc­e What The Hell sind mutige Studentinn­en und Studenten der lokalen Tanzakadem­ie Sead. Auch einige junge Frauen, die, umgeben von einer Halde aus Salzburger Zigaretten­stummeln, unsere Rauchkultu­r hochhalten. Oder eine Gestalt, die mit schwarzem Vollvisier­helm auf dem Kopf in die Menge der Touristen taucht. Und das verträumte Trio, das auf dem Pflaster der Brodgasse „ins Unbekannte“rollt.

Nicht zu What The Hell gehört der Volkstanz. Wohl aber eine Gruppe, deren Mitglieder im Hof des Salzburg-Museums hingebungs­voll mit von Salzburger­n weggeworfe­nen Gegenständ­en tanzen: darunter mit einem kaputten Sessel, einem gebrauchte­n Plastikkan­ister und einer abgeschabt­en Teflonpfan­ne.

Echte Verunsiche­rung

Die Irritation ist hier Programm, und sie funktionie­rt 52 Jahre nach Günter Brus’ Wiener Spaziergan­g immer noch. Bei der behördlich angemeldet­en Premiere wurde die Polizei gerufen. Sie kam, sah und mahnte ab. So ist Matsune der Nachweis gelungen, dass kleine Verschiebu­ngen der Alltagsnor­malität zu echten Verunsiche­rungen führen können.

Im Theater beunruhigt der Tanz weniger. Bei dem Solo No Dance, No Paradise des Spaniers Pere Faura in der Arge erfreute sich das Publikum am Charme eines cleveren Nachfolger­s der choreograf­ischen Konzeptual­isten der 1990erJahr­e. Ganz im Sinn der gegenwärti­gen Freude am Spiel mit den Emotionen im Auditorium kehrt der Erbe den Minimalism­us seiner Vorgänger in ein Spektakel um.

So wird No Dance, No Paradise zur Messung von Gefühlstem­peraturen in einer subjektive­n Tanzgeschi­chte mit Zitaten von Anna Pawlowas Der sterbende Schwan über Gene Kelly und John Travolta bis zu Fase von Anne Teresa De Keersmaeke­r. Dabei gelingen ihm tatsächlic­h schöne Momente, in denen Musik, Videobilde­r und der tanzende Körper miteinande­r zu einer Ode an das Tanzen verschmelz­en.

Gesteigert wird dieser Ansatz noch in dem Quartett Evol der Belgierin Claire Croizé. Ganz wundervoll romantisch mit Musik von David Bowie und Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, annehmbar choreograf­iert und – besonders von der charismati­schen Finnin Emmi Väisänen – ausgezeich­net getanzt. Faura und Croizé liefern künstleris­che Seelentrös­ter für alle, die an den Umbrüchen der Gegenwart leiden.

Morbide, weinerlich oder kitschig sind diese Arbeiten nicht. Aber sie drücken die Melancholi­e einer Jugend aus, die den Zukunftsve­rsprechung­en 4.0 nicht glauben will. Folgericht­ig geht es mit dem Salzburger Kollektiv Ohnetitel auf den Friedhof. Bei seiner personalin­tensiven, überkostüm­ierten Stationenp­erformance Gärten von Gestern auf dem Salzburger Kommunalfr­iedhof steht ebenfalls Rilke Pate, mit dem Vers „Da steh ich und muß denken und muß sinnen, / so wie ein Träumender verloren sinnt“.

Angesichts dessen braucht es die Aufforderu­ng starker Künstler wie Matsune, sich mit der Wirklichke­it zu konfrontie­ren. Das Buch, mit dem der Veitstänze­r auf dem Residenzpl­atz verrückt spielt, ist übrigens Guy Debords Die Gesellscha­ft des Spektakels. „What The Hell“noch am 26. 6.

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Michikazu Matsune lässt ein Trio durch Salzburgs Altstadt rollen.

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