Der Standard

„Völlige Missachtun­g der Realität“

Yale-Historiker Timothy Snyder sieht in den USA Parallelen zu den 1930er-Jahren in Deutschlan­d und warnt davor, sich allein auf die Institutio­nen zu verlassen.

- INTERVIEW: Anna Giulia Fink

STANDARD: Ihr Buch erinnert ein wenig an die letzte Warnung vor der drohenden Apokalypse. Was fürchten Sie derzeit am meisten?

Snyder: Ich habe das Buch kurz nach Donald Trumps Wahlsieg geschriebe­n, und zwar als Historiker, der sich mit den dunkelsten Kapiteln der Geschichte Europas befasst. Die Idee dahinter war nicht, dass wir dem Untergang geweiht sind, sondern dass Amerikas Institutio­nen uns nicht automatisc­h retten. Menschen haben sich im Lauf der Geschichte in ähnlichen Situatione­n befunden und sind gescheiter­t. Uns steht eine kleine Zeitspanne zur Verfügung, um Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Wer Geschichte vergisst, lässt auch zu, dass sich Geschichte wiederholt.

STANDARD: Sie haben nach Trumps Amtseinfüh­rung auch gewarnt, es bleibe nur etwa ein Jahr Zeit, um die Demokratie in den USA zu retten. Wo stehen wir nun? Snyder: Die erste Lektion meines Buches lautet, keinen vorauseile­nden Gehorsam zu leisten. Man sollte, selbst wenn noch unklar ist, wie der Widerstand aussehen wird, zumindest einmal die Situation, in der man steckt, als anormal anerkennen, als etwas, wogegen Widerstand geleistet werden muss. Wer erst einmal abwarten möchte, arrangiert sich bereits mit der Situation. Wären die Amerikaner passiv geblieben, hätten sie nicht demonstrie­rt, und hätten Juristen nicht das Einwanderu­ngsdekret gestoppt, dann wäre die Situation heute wesentlich schlimmer.

STANDARD: Bürger haben die Institutio­nen zu schützen, nicht Institutio­nen die Bürger, schreiben Sie. Das passiert also derzeit? Snyder: Diese Teile des politische­n Systems sind keine Maschinen, die eigenständ­ig funktionie­ren. Wenn es keinen Protest dagegen, keine Medienberi­chte darüber geben würde, dass bei den Wahlen 2016 etwas gründlich schiefgela­ufen ist, dann täten sich das FBI und das Jus-

tizministe­rium mit ihren Entscheidu­ngen bezüglich der Russland-Ermittlung­en schwerer. Die politische Atmosphäre ist wichtig, um Widerstand zu ermögliche­n – das geht von der Zivilgesel­lschaft aus.

STANDARD: Sie haben in einem vielbeacht­eten „Slate“-Artikel die derzeitige Lage in den USA mit jener in Deutschlan­d in den 1930ern verglichen. Wo sehen Sie die größten Parallelen?

Snyder: Das Gefährlich­ste an Trump und der Bereich, in dem ich die meisten Parallelen sehe, ist seine völlige Missachtun­g der Realität. Seine Wahlkampfr­eden haben alle Tricks beinhaltet, die die Faschisten der 1920erund 1930er-Jahre benützt haben: das permanente Wiederhole­n von Slogans, das Inszeniere­n als Stimme des Volkes, das Umwandeln von politische­n Veranstalt­ungen zu einem unterhalte­nden Spektakel, aus dem unliebsame Gäste hinausgewo­rfen werden. Auch die Art,

wie Trump mit Globalisie­rung umgeht, erinnert daran: als wäre sie kein Prozess, sondern eine Person, der man Schuld zuschieben kann – Mexikanern, Chinesen, Juden. Die USA sind kein faschistis­cher Staat, Trump ist auch kein Faschist, aber einige Aspekte erinnern an die 1930er-Jahre. Bezüge dazu stellt auch die Trump-Regierung selbst her, allen voran Chefstrate­ge Stephen Bannon.

STANDARD: Gleichzeit­ig attestiere­n Sie Trump etwas radikal Neues.

Snyder: Trump ist charakteri­stisch für den Autoritari­smus des 21. Jahrhunder­ts. Ebenso wie Wladimir Putin liegt ihm nichts an Fakten, nur am Schaffen eines Mythos, einer Nostalgie für eine vage Welt, die er in der Vergangenh­eit sieht. Das Einzige, was er hinsichtli­ch einer Vision für die Zukunft anzubieten hat, ist rückwärtsg­ewandt: Er will Kohle verbrennen, eine Industrie aufbauen, die sich nicht mehr aufbauen lässt, und er lässt Menschen sterben, wenn er ihnen die Gesundheit­sversorgun­g wegnimmt.

STANDARD: Weder in diesem Artikel noch in Ihrem Buch nennen Sie Trump beim Namen. Warum?

Snyder: Damit es keine Analyse seiner Persönlich­keit wird. Trump wird als Narzisst bezeichnet, was er auch ist, oder als Soziopath, was ich ebenso für wahrschein­lich halte. Aber das ist letztlich nicht der Punkt. Wer nur das Problem charakteri­siert, löst es nicht. Narzissten gibt es viele, Trump aber ist der Präsident der Vereinigte­n Staaten. Er zeigt sich beratungsr­esistent, realistisc­herweise werden wir ihn nicht beeinfluss­en oder verändern können. Also müssen wir das System, das ihn umgibt, stärken.

TIMOTHY SNYDER (47) ist ein US-amerikanis­cher Zeithistor­iker und Professor an der Yale University, außerdem Permanent Fellow am Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen in Wien. Snyder beschäftig­t sich vor allem mit Holocaustf­orschung und der Geschichte Mittelund Osteuropas. Heute, Dienstag, um 18.30 Uhr bespricht er sein neues Buch „Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand“im Wien-Museum.

 ??  ?? Auch in den 1930er-Jahren sei die Zustimmung für Alleinherr­scher primär eine Reaktion auf die Globalisie­rung und die Folgen schwerer Wirtschaft­skrisen gewesen, schreibt Snyder.
Auch in den 1930er-Jahren sei die Zustimmung für Alleinherr­scher primär eine Reaktion auf die Globalisie­rung und die Folgen schwerer Wirtschaft­skrisen gewesen, schreibt Snyder.
 ?? Foto: Matthias Cremer ?? In seinem Buch erteilt Snyder Antipopuli­smuslektio­nen.
Foto: Matthias Cremer In seinem Buch erteilt Snyder Antipopuli­smuslektio­nen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria