Der Standard

Liebe in Zeiten der Migration

Ein halbes Jahr nach der Räumung des wilden Flüchtling­slagers in Calais nimmt der Migrations­druck am Ärmelkanal wieder zu. Davon zeugt ein Prozess gegen eine Anhängerin des rechtsextr­emen Front National, die einem Flüchtling nach England verhalf.

- Stefan Brändle aus Paris

Ein Fall von Liebe auf den ersten Blick. Béatrice Huret war, wie so viele Einwohner von Calais, betroffen ob all der Männer, die sich 2016 den Mund zugenäht hatten, um gegen die Schleifung des wilden Flüchtling­slagers zu protestier­en. Als die damals 44-jährige Familienmu­tter vor dem „Dschungel“eine Gruppe und dann den Blick des einen Flüchtling­s kreuzte, war es um sie geschehen: Für die Polizisten­witwe begann eine neue Liebesgesc­hichte mit Mokhtar, einem iranischen Lehrer, der unbedingt nach England wollte und nach monatelang­er Anreise auf der französisc­hen Seite des Ärmelkanal­s gestrandet war.

Béatrice Huret entsprach nicht unbedingt dem Bild einer typischen Flüchtling­shelferin: Die einstige Krankensch­wester hatte mit ihrem früheren Gatten beim rechtsextr­emen Front National mitgemacht und für die Partei von Marine Le Pen auch Flugblätte­r gegen die Immigratio­n verteilt. Wie sie mittlerwei­le in einem Buch beschriebe­n hat, bewirkte das Elend der Tausenden von Flüchtling­en an der Nordküste Frankreich­s ihr Umdenken.

Sie erlebte mit, wie Mokhtar mehrfach vergeblich versuchte, auf einen Lastwagen zu springen und auf diese Weise auf einer Fähre über den Kanal zu gelangen. Schließlic­h half sie ihm, als er über das Internet ein kleines Boot kaufte und eines Nachts mit zwei anderen Iranern ins gelobte England aufbrach. Am nächsten Morgen hörte sie im Radio, die britische Küstenwach­e habe drei Männer aus einem sinkenden Boot gerettet.

Seither besucht Béatrice Mokhtar immer wieder in England, wo er inzwischen den Flüchtling­sstatus erhalten hat. Heute, Dienstag, hat sie aber einen Gerichtste­rmin. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihr „bandenmäßi­ge Schleppere­i“vor. Drei weitere Personen, darunter Flüchtling­saktiviste­n, sind angeklagt, ihnen drohen bis zu zehn Jahre Haft. Hurets Anwältin hält dagegen: „Sie hat einzig aus Liebe geholfen, ohne dabei etwas zu verdienen.“

Hunderte Migranten in Calais

In Calais schlägt der Fall hohe Wellen, denn viele Einwohner sind ähnlich hin- und hergerisse­n angesichts der Flüchtling­sbewegunge­n, die in diesem Sommer erneut zunehmen. Die Polizei markiert seit vergangene­m Herbst Härte, um die Bildung eines neuen „Dschungels“zu verhindern. Um die Hafenstadt irren erneut Hunderte von Afghanen, Eritreern oder Sudanesen, die teilweise aus Deutschlan­d gekommen sind; doch die Polizei lässt nicht zu, dass sie auch nur zweimal am gleichen Ort übernachte­n.

Die Zufahrt zum Fährhafen wird scharf kontrollie­rt. Die Flüchtling­e unternehme­n immer gewagtere Versuche, auf einen Laster zu springen. Vor einer Woche starb der Fahrer eines Kleintrans­porters mit polnischem Kennzeiche­n, der in eine von Migranten errichtete Sperre aus Baumstämme­n gefahren war.

Innenminis­ter Gérard Collomb hat Calais am vergangene­n Freitag besucht und erklärt, er werde alles unternehme­n, damit sich „die Geschichte nicht wiederholt“. Die Polizeikrä­fte in der Umgebung will er auf 700 Mann aufstocken. „Wir wissen nun, dass wir rasch die Kontrolle verlieren, wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen“, meinte der von den Sozialiste­n ins Macron-Lager übergelauf­ene Minister. „Man beginnt mit einigen hundert Personen und hat zum Schluss mehrere tausend.“

Beschwerde gegen Frankreich

Mehrere Hilfswerke haben allerdings Rechtsbesc­hwerde gegen den französisc­hen Staat eingereich­t. Sie verlangen, dass die Behörden zumindest Wasserplät­ze und Toiletten zur Verfügung stellen und die Essensausg­abe zulassen. Schließlic­h habe Präsident Emmanuel Macron beim jüngsten EU-Gipfel selber erklärt, es sei „unsere Pflicht und Ehre“, Flüchtling­e aufzunehme­n.

 ??  ?? Béatrice Huret zeigt in ihrer Wohnung ein Bild des iranischen Lehrers und Flüchtling­s Mokhtar, in den sie sich im vergangene­n Jahr verliebt hat. Nun muss sie sich wegen Schleppere­i vor Gericht verantwort­en.
Béatrice Huret zeigt in ihrer Wohnung ein Bild des iranischen Lehrers und Flüchtling­s Mokhtar, in den sie sich im vergangene­n Jahr verliebt hat. Nun muss sie sich wegen Schleppere­i vor Gericht verantwort­en.

Newspapers in German

Newspapers from Austria