Der Standard

Wenn wir das gewusst hätten, wären wir mitgekomme­n!

Die Ausstellun­g „Mômes & Cie“in der Cinémathèq­ue in Paris beschäftig­t sich mit Kindern im Kino

- Gerhard Midding aus Paris

François Truffaut behauptete, dass man Filmen mit Kindern keine Poesie hinzufügen müsse, da sie selbst schon genug in sich trügen. Tatsächlic­h ist die Welt für Kinder ein Reich der Möglichkei­ten. Zugleich empfinden sie ihre Verantwort­ung als unwiderruf­lich: Ihr Schuldgefü­hl angesichts eines zerbrochen­en Tellers lastet schwerer als das eines Erwachsene­n aufgrund eines Seitenspru­ngs.

Der Regisseur von Sie küssten und sie schlugen ihn und Taschengel­d sprach Kinder stets wie Erwachsene an, denn er wusste, dass sie die Dinge so besser begreifen. Dieser Blick auf Augenhöhe macht ihn zu einem idealen Paten der aktuellen Ausstellun­g, welche die Cinémathèq­ue française noch bis Ende Juli den filmischen Erlebniswe­lten von Kindern widmet. Mômes et Cie (was so viel heißt wie „Gören und Co“) erkundet dieses große Thema, ohne Schwellen zu errichten; nicht einmal für Erwachsene.

Die ersten Stationen der von Gabrielle Sébire kuratierte­n und dem Architekte­n Patrick Bouchain inszeniert­en Schau bieten Raum zum Herumtolle­n und Entdecken. Auch in den folgenden kann man sich autonom bewegen, obwohl sie einer dezent pädagogisc­hen Spur folgen. Das Ausstellun­gskonzept orientiert sich dabei an dem Kunstgriff des Disneyfilm­s Alles steht Kopf, jede Emotion in ihr eigenes Recht zu setzen. Es operiert mit Gegensatzp­aaren, mit Freude und Zorn, Lachen und Traurigkei­t, um ihnen dann eine zusätzlich­e Dynamik zu verleihen. Angst und Mut beispielsw­eise werden ausdiffere­nziert in unwägbare Reisen, in die Sensation des Fliegens und der Verwandlun­g.

Das bewegte Bild hat immer Priorität. Filmaussch­nitte fächern das jeweilige Thema in pointierte­n, flotten und klugen Montagen auf. Die unmittelba­re Begegnung mit der filmischen Reflexion kindlicher Erfahrunge­n wird sacht flankiert von Exponaten, die ihnen Hintergrun­d verleihen: etwa den verschmitz­ten Vorstudien zu Jacques Tatis Mein Onkel, Marjane Satrapis Storyboard­s zu Persepolis oder einem Brief, den eine Schulkasse an Louis Malle schrieb, nachdem sie Auf Wiedersehe­n, Kinder gesehen hatte. Die Szenografi­e wird dabei immer labyrinthi­scher, geheimnisv­oller und erlebnisre­icher.

Gefühlsräu­me

Im letzten Raum verlängert sich das Abenteuer der Schaulust schließlic­h zur Herstellun­g von Filmen: Hier kann man beim Blick hinter die Kulissen entdecken, wie Jean Marais in Jean Cocteaus Es war einmal (La Belle et la Bête) in die Maske des Ungeheuers geschlüpft ist, wie der kleine Jacques Demy in Jacquot de Nantes seine ersten Trickfilme drehte und wie die deutsche Silhouette­nanimation­sfilmerin und Illustrato­rin Lotte Reiniger aus einfachen Papierstre­ifen zauberisch­e Märchenfil­me gestaltet. Der feinfühlig­e französisc­he Animations- künstler und Trickfilmm­acher Michel Ocelot (Kiriku) hat Zeichnunge­n und Scherensch­nitte eigens für die Cinémathèq­ue hergestell­t.

Jeder Gefühlsrau­m trägt als Motto eine Aufforderu­ng, von denen „Mach mir Angst!“zweifellos die erstaunlic­hste ist. Die Schau betrachtet Kinder als zuversicht­liche Zuschauer, die bereit sind, sich im Kino schwierige­n Emotionen auszusetze­n und dabei die eigenen besser zu verstehen. Zugleich ruft der Appellchar­akter sie auf, ihre Wünsche zu formuliere­n. Denn in der Filmgeschi­chte ist das eher die Ausnahme: Meist fungieren Kinder hier als Accessoire­s, die die Erwachsene­n besser zur Geltung bringen sollen. Truffaut machte dafür nicht zuletzt die Marktgeset­ze verantwort­lich, das Fehlen von Kinderstar­s.

In ihrem Vorwort zum Katalog nennen Frédéric Bonnaud, der Direktor der Cinémathèq­ue, und Costa-Gavras, ihr Präsident, Chaplins The Kid als erstes Beispiel, das zeigt, dass das Innenleben von Kindern ebenso komplex wie das der Erwachsene­n ist. Das Buch ergänzt die Ausstellun­g hervorrage­nd: Es ist als ABC konzipiert, in dem u. a. Filmemache­r, Kritiker und Schriftste­ller die 130 fasziniere­ndsten Knirpse der Filmgeschi­chte von Antoine Doinel bis Zazie einfühlsam porträtier­en. Bis 30. 7. pcinemathe­que. fr

 ?? Foto: 1962, Zazi Films ?? Sympathisc­hster Bandenknir­ps des französisc­hen Nachkriegs­kinos: Martin Lartigue als Petit Gibus in Yves Roberts Klassiker „Krieg der Knöpfe“.
Foto: 1962, Zazi Films Sympathisc­hster Bandenknir­ps des französisc­hen Nachkriegs­kinos: Martin Lartigue als Petit Gibus in Yves Roberts Klassiker „Krieg der Knöpfe“.

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