Der Standard

Brasiliens Präsident lähmt das Land

Michel Temer ist wegen Korruption angeklagt. Unklar ist, ob es auch zum Prozess kommt. Doch für den Staatschef wird es trotzdem heikel. 23 Absetzungs­anträge liegen gegen ihn vor.

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Korruption, Behinderun­g der Justiz und die Bildung einer kriminelle­n Vereinigun­g – eigentlich wäre schon jeder Vorwurf für sich allein ein Rücktritts­grund. Nicht so in Brasilien. Staatspräs­ident Michel Temer klammert sich weiterhin an sein Amt und verdammt Brasiliens Politik so zur Handlungsu­nfähigkeit.

Der Regierungs­sitz Palácio do Planalto ist zur juristisch­en Trutzburg des 76-Jährigen geworden. Doch jetzt könnte Temers letzte Schlacht begonnen haben. Generalsta­atsanwalt Rodrigo Janot reichte in der Nacht auf Dienstag beim Obersten Gericht Klage wegen Korruption­sverdachts gegen ihn ein. Es ist das erste Mal, dass sich ein amtierende­r Präsident solch einer Anklage stellen muss.

Ob es im aktuellen Fall zu einem Prozess kommt, ist allerdings noch offen. Der Oberste Gerichtsho­f muss entscheide­n, ob er eine strafrecht­liche Verfolgung zulässt. Danach müsste der Kongress mit einer Zweidritte­lmehrheit für die Absetzung des Staatschef­s stimmen. Bis jetzt konnte sich Temer immer auf die Loyalität der mehrheitli­ch konservati­ven Abgeordnet­en verlassen. Denn sie fürchten in der aktuellen Debatte über vorgezogen­e Neuwahlen nicht nur um ihre Posten, sondern vor allem um ihre Immunität, die sie selbst vor Korruption­sklagen schützt. Laut Transparen­cy Internatio­nal wird gegen 60 Prozent der Parlamenta­rier wegen Bestechlic­hkeit ermittelt.

Fleischer mit dem Geldkoffer

„Niemand steht über dem Gesetz“, sagte Staatsanwa­lt Janot zur Anklageerh­ebung. Er hatte Ende Mai Ermittlung­en gegen Temer eingeleite­t, nachdem abgehörte Tonbandmit­schnitte aufgetauch­t waren. Janot wirft Temer vor, über einen Mittelsman­n, Parteifreu­nd Rocha Loures, Bestechung­sgelder für seine Partei PMDB von dem Fleischmag­naten Joesley Batista angenommen zu haben. Dieser hatte bei einem Treffen mit Temer ein Tonband in der Anzugtasch­e versteckt, um in dem Korruption­sverfahren „Lava Jato“seine eigene Haut zu retten. Loures wurde gefilmt, wie er einen Koffer mit umgerechne­t knapp 150.000 Euro entgegenna­hm.

Temer selbst wirft Janot Voreingeno­mmenheit und fehlende Beweise vor. Er sieht sich weiter als Retter Brasiliens, der mit ungeliebte­n Reformen das Land zukunftsfe­st macht. „Wir müssen vorangehen. Nichts wird uns zerstören, weder mich noch meine Minister“, verkündete er pathetisch. Auch sein historisch schlechter Beliebthei­tswert von sieben Prozent und Rücktritts­appelle aus den eigenen Reihen scheinen ihn dabei nicht aufzuhalte­n. Zusätzlich wird er sich dem Druck der Straße stellen müssen: Die Gewerkscha­ften haben zum Generalstr­eik am Freitag aufgerufen.

Was in europäisch­en Ohren wie eine Räuberpist­ole klingt, wirft Brasiliens junge Demokratie weit zurück. 23 Impeachmen­t-Anträge liegen inzwischen gegen Temer vor. Einer Absetzung wegen illegaler Wahlkampff­inanzierun­g konnte er jüngst – trotz erdrückend­er Beweislage – nur entgehen, weil Brasiliens Justiz doch nicht unabhängig ist.

Auch internatio­nal spielt Temer auf Zeit. In der vergangene­n Woche legte er sein Veto gegen zwei umstritten­e Dekrete ein, die die Umwandlung von AmazonasSc­hutzgebiet­en in Ackerland und Viehweiden erlauben würden. Wenn er das nicht getan hätte, wäre Brasiliens Beitrag zum Pariser Klimaschut­zabkommen gefährdet. Und kurz vor dem G20-Gipfel in Hamburg wollte sich Temer nicht an den internatio­nalen Pranger stellen lassen. Doch sein Veto bedeutet nur einen Aufschub, das machte der Staatschef auch der mächtigen Agrarlobby im Kongress klar. Denn um im Amt bleiben zu können, ist er auf deren Stimmen angewiesen. Somit wird es zwar Nachverhan­dlungen geben, aber nur mit kleinen Veränderun­gen.

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Brasiliens Präsident Michel Temer bei einem Vortrag vor Bankern. Er selbst sieht sich als Retter der Nation – trotz der Anklage gegen ihn.

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