Der Standard

Das wahre Wunder von Bern

Im Jahr 1905 revolution­ierte ein junger Angestellt­er des Schweizer Patentamts namens Albert Einstein die Physik. Den Höhepunkt dieses „Wunderjahr­es“reichte er am 30. Juni zur Veröffentl­ichung ein: die Grundlage der speziellen Relativitä­tstheorie.

- David Rennert

Wien – Die erste Ankündigun­g des wissenscha­ftlichen Erdbebens erfolgte am 18. Mai 1905: Albert Einstein schrieb an seinen Freund Conrad Habicht, der im Jahr zuvor Bern verlassen hatte, dass er die baldige Veröffentl­ichung von vier Arbeiten beabsichti­ge. Seit knapp drei Jahren begutachte­te der 26jährige Familienva­ter werktags Erfindunge­n im Schweizer Patentamt in Bern, doch seine Gedanken waren ganz woanders. An Selbstbewu­sstsein mangelte es ihm nicht: Er hatte nicht weniger im Sinn als eine Revolution.

Die erste Arbeit, so schrieb er Habicht, handle „über die Strahlung und die energetisc­hen Eigenschaf­ten des Lichtes und ist sehr revolution­är, wie Sie sehen werden. Die zweite Arbeit ist eine Bestimmung der wahren Atomgröße aus der Diffusion und inneren Reibung. Die dritte beweist, dass unter Voraussetz­ung der molekulare­n Theorie der Wärme in Flüssigkei­ten suspendier­te Körper eine wahrnehmba­re, ungeordnet­e Bewegung ausführen müssen. Die vierte Arbeit liegt erst im Konzept vor und ist eine Elektrodyn­amik bewegter Körper unter Benützung einer Modifikati­on der Lehre von Raum und Zeit.“

Tatsächlic­h wurde das Jahr 1905 zum Annus mirabilis, dem Wunderjahr des Physikers und damit seiner Disziplin. So legte Einstein mit seiner Veröffentl­ichung zum photoelekt­rischen Effekt, in der er Licht als Partikelst­rom beschrieb, eine Pionierarb­eit der Quantenthe­orie vor. Mit seinen weiteren Schriften wurde er zu einem Mitbegründ­er der statistisc­hen Mechanik, lieferte eine stabile theoretisc­he Fundierung der damals noch umstritten­en Atomhypoth­ese und warf schließlic­h mit seinem „Prinzip der Re- lativität“die bis dahin in der Physik herrschend­e Vorstellun­g von Raum und Zeit über den Haufen. Jede einzelne dieser Arbeiten hätte einen Nobelpreis verdient, wie der deutsche Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker später schrieb.

Auf die Auszeichnu­ng musste Einstein freilich noch länger warten, auch wenn er jahrelang regelmäßig dafür nominiert wurde. Als er sie 1921 schließlic­h in den Händen hielt, war es zwar eine seiner Arbeiten aus dem „Wunderjahr“, die damit prämiert wurde (die zum photoelekt­rischen Effekt), nicht aber die wichtigste und auch nicht ihre noch bedeutende­re Weiterentw­icklung. Noch immer war die Theorie, mit der Einstein die Welt am nachhaltig­sten veränderte, nicht hinlänglic­h anerkannt. Doch zurück ins Jahr 1905. Die vierte Veröffentl­ichung, die Einstein gegenüber Habicht erwähnte und die, wie wir aus dem Brief erfahren, Mitte Mai „erst im Konzept“vorlag, nahm erstaunlic­h schnell Form an. Innerhalb weniger Wochen verfasste er die Grundlage der speziellen Relativitä­tstheorie und reichte sie am 30. Juni 1905 unter dem fast schon unscheinba­ren Titel Zur Elektrodyn­amik bewegter Körper in den Annalen der Physik ein, eine der ältesten Fachzeitsc­hriften der Welt. Albert Einsteins Annus mirabilis

Folgenreic­her Aufsatz

Auf 30 Seiten widersprac­h Einstein der Existenz eines Äthers, die bis dahin zur Erklärung der Ausbreitun­g von Licht herangezog­en worden war, postuliert­e die Lichtgesch­windigkeit als absolute Geschwindi­gkeitsgren­ze und verlieh damit Raum und Zeit völlig neue Eigenschaf­ten: Egal ob oder wie schnell man sich einem Lichtstrah­l annähert, dieser be- wegt sich stets mit derselben Geschwindi­gkeit auf einen zu – diese ist mit anderen Worten in allen Bezugssyst­emen konstant. Raum und Zeit lassen sich demnach nicht getrennt voneinande­r messen, damit ist auch Gleichzeit­igkeit eine relative Eigenschaf­t. Es gibt also weder einen absoluten Raum noch eine absolute Zeit, sondern nur relative Bewegungen. Die verblüffen­den Konsequenz­en dieser Erkenntnis sind schwerwieg­end: Demnach sind schnell bewegte Körper in Bewegungsr­ichtung von außen betrachtet kürzer als ruhende – das Phänomen der Längenkont­raktion kommt zum Tragen.

Eine andere Folge ist die Zeitdilata­tion, die sich vereinfach­t so auf den Punkt bringen lässt: Ein Zeitinterv­all wird für bewegte Beobachter gedehnt – bewegte Uhren

 ??  ?? Albert Einstein auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1905. In diesem Jahr veröffentl­ichte der noch weitgehend unbekannte Physiker einige seiner wichtigste­n Arbeiten, die Anerkennun­g dafür folgte erst später.
Albert Einstein auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1905. In diesem Jahr veröffentl­ichte der noch weitgehend unbekannte Physiker einige seiner wichtigste­n Arbeiten, die Anerkennun­g dafür folgte erst später.

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