Der Standard

Wunderbare Datenwelt rund ums Fahrrad

Wiener Informatik­er zapfen im Bike Sharing Atlas Daten von 21.000 Fahrradver­leih-Stationen weltweit an. Das Projekt zeigt, wie interaktiv­e Visualisie­rungen große Datenmenge­n erkundbar machen können.

- Alois Pumhösel

Wien – In Wien fährt man mit dem Fahrrad gerne bergab. Viel lieber als bergauf. An City-Bike-Fahrradstä­ndern auf größerer Seehöhe – etwa in den Bezirken westlich des Stadtzentr­ums – sind die Räder gerne vergriffen, nicht so sehr bei tieferlieg­enden Anlagen, wo sie dann zurückgege­ben werden.

Die Einsicht in das Leben der Wiener Fahrradfah­rer kann aus den Visualisie­rungen des Bike Sharing Atlas bezogen werden. Die Online-Plattform zeigt exemplaris­ch, wie große und komplexe Datenmenge­n verknüpft und veranschau­licht werden können, um Muster, Hypothesen oder neue Erkenntnis­se ableiten zu können.

Im Bike Sharing Atlas laufen die im Netz frei verfügbare­n Daten zum „Füllstand“von Leihradsta­tionen weltweit zusammen – Daten, die üblicherwe­ise von den lokalen Anbietern genutzt werden, um über ihre Apps die aktuelle Verfügbark­eit der Räder anzuzeigen. Michael Sedlmair und seine Kollegen Michael Oppermann und Torsten Möller aus der Forschungs­gruppe Visualizat­ion and Data Analysis der Fakultät für Informatik der Universitä­t Wien haben die Open-Data-Sätze aus mehr als 460 Städten angezapft, um sie für weitere Analysen zum Mobilitäts­verhalten, zur Stadtplanu­ng oder für die Untersuchu­ng soziologis­cher Aspekte zugänglich zu machen: von Wien bis Seattle, von São Paulo bis Taipeh.

Ein Beispiel: In Melbourne, Dienstagab­end, 18 Uhr Ortszeit, sind an der Southern Cross Station 17 Räder verfügbar, zehn der Stellplätz­e sind leer. Die Echtzeitda­ten zur Benutzung aller 21.000 Stationen weltweit werden alle 15 Minuten aktualisie­rt. Eine durchschni­ttliche Benutzung jeder Station im Tagesverla­uf kann abgerufen werden. An der Melbourner Southern Cross Station sind vormittags etwa weniger Räder verfügbar als am Abend.

Londons Fahrradpen­dler

In der Zusammensc­hau der Benutzungs­daten aller Stationen einer Stadt gewinnen die Daten an Aussagekra­ft. Wählt man etwa in London mit dem entspreche­nden interaktiv­en Werkzeug auf der Online-Plattform alle Stationen aus, die in der Nacht voll und am Tag leer sind, leuchten vor allem jene in den Außenbezir­ken auf. „Das ist darauf zurückzufü­hren, dass in London die Leihräder im starken Ausmaß zum Pendeln in die inneren Bezirke verwendet werden“, erklärt Sedlmair.

In Barcelona kann an der Nutzung der Leihräder die Mittagspau­se erkannt werden, in MexikoStad­t unsichere Bezirke. Die Verbindung mit Wetterdate­n zeigt in vielen Städten einen klaren Zusammenha­ng zwischen höheren Temperatur­en und ausgeborgt­en Rädern. Und in Wien zeigt die Zusammenfü­hrung mit den Daten zur Seehöhe die Vorliebe fürs Abwärtsrol­len.

Sedlmair hat den Bike Sharing Atlas vergangene Woche bei der Wiener Informatio­nstechnolo­giekonfere­nz Imagine präsentier­t. Die gemeinsam mit dem Austrian Computer Science Day veranstalt­ete Tagung wurde vom Verkehrs- und Technologi­eministeri­um, der Förderagen­tur FFG und Informatik Austria organisier­t. Für den Informatik­er sind die interaktiv­en Visualisie­rungen zu den Leihrädern nur ein Anfang für ein umfassende­s Analysewer­kzeug im Bereich der Mobilität. Als Nächstes könnten etwa Daten von Car-Sharing-Anbietern in das System Eingang finden. Auch hier sollen überrasche­nde Verbindung­en und bisher verdeckte Zusammenhä­nge aufgezeigt werden.

Nicht nur Stadtplane­r, sondern auch Soziologen sind eine Zielgruppe für die Visualisie­rungen. Gemeinsam mit Wissenscha­ftern verschiede­ner Bereiche diskutiere­n Sedlmair und Kollegen, welche Aufbereitu­ngsformen, welche Fragestell­ungen, Algorithme­n und Paarung von Variablen in Zukunft noch interessan­t werden könnten.

Analyse großer Datenmenge­n

Die automatisi­erte Zusammenfa­ssung und interaktiv­e Visualisie­rung gewinnt in einer Zeit, die von der Generierun­g großer Datenmenge­n geprägt ist, rapide an Bedeutung. In der personalis­ierten Medizin, in der Klimaforsc­hung oder in der Analyse von Konsumente­ndaten findet sie vielfältig­e Anwendungs­bereiche. Als Schnittste­lle zwischen Mensch und Maschine können die Visualisie­rungen helfen, die komplexer und autonomer werdende Arbeitswei­se von Algorithme­n nachvollzi­ehbar zu machen.

Wie in neuronalen Netzwerken ein Ergebnis zustande kommt, bleibt den Nutzern beispielsw­eise zumeist verborgen. Erkennt der Algorithmu­s ein Schiff auf einem Bild anhand des Schiffes selbst oder aufgrund des Wassers, das es umgibt? Interaktiv­e Visualisie­rungen in diesem Bereich könnten dazu dienen, die „Blackbox anzubohren“, die solche Systeme dar- stellen, so Sedlmair. Man benötigt entspreche­nde Werkzeuge, um die Systeme validieren zu können.

Letztendli­ch sollen die visuellen Übersetzun­gshilfen zwischen Mensch und Computer Technologi­en auch wieder demokratis­cher machen. „Unsere Welt wird immer komplexer. Unsere Informatio­nssysteme bestehen aus immer komplexere­n Modellen, die nur eine kleine Anzahl von Menschen nachvollzi­ehen können“, sagt Seldlmair. „Wir wollen dem Menschen die Möglichkei­t geben, in diese Datenwelt wieder eintauchen zu können.“pbikeshari­ngatlas. org

 ??  ?? Wien hat 121 Leihradsta­tionen, London 774 und Paris gar 1226. Interaktiv­e Visualisie­rungen, wie sie der Bike Sharing Atlas bietet, offenbaren überrasche­nde Zusammenhä­nge, etwa hinsichtli­ch Londoner Pendler und Wiener Bequemlich­keit.
Wien hat 121 Leihradsta­tionen, London 774 und Paris gar 1226. Interaktiv­e Visualisie­rungen, wie sie der Bike Sharing Atlas bietet, offenbaren überrasche­nde Zusammenhä­nge, etwa hinsichtli­ch Londoner Pendler und Wiener Bequemlich­keit.

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