Der Standard

Protektion­ismus versus Freihandel?

Alle Welt spricht von Protektion­ismus und Freihandel. Wer gegen Freihandel ist, ist Protektion­ist. So einfach ist das. Bei näherer Betrachtun­g stehen jedoch beide Begriffe für spiegelgle­iche Extremposi­tionen.

- Christian Felber

Was bedeutet Freihandel genau? Je mehr Handel, desto besser? Der aktuelle Verhandlun­gswahn der EUKommissi­on – 46 bilaterale und plurilater­ale Verträge – deutet darauf hin. Im Lissabon-Vertrag heißt es, die EU „trägt zur schrittwei­sen Beseitigun­g der Beschränku­ngen im internatio­nalen Handelsver­kehr und bei den ausländisc­hen Direktinve­stitionen bei“. Keine Abwägungen, Relativier­ungen oder Priorisier­ungen. Wenn der Abbau von Handelsbar­rieren das Ziel ist, ohne dass verbindlic­he Menschenre­chts-, Arbeits-, Sozial-, Verteilung­s-, Steuer-, Umwelt- oder Klimaziele zur Voraussetz­ung gemacht werden, mutiert Handel zum Selbstzwec­k.

Der Begriff Protektion­ismus teilt mit Freihandel das Fehlen einer Definition. Ein „-ismus“macht das, was voransteht, zum höchsten Wert und Ziel, zum Selbstzwec­k. Protektion bedeutet schlicht „Schutz“. Wir schützen alles Mögliche: von Kindern und Minderheit­en über private Daten bis hin zu Grenzen: intime, rechtliche, territoria­le – alles im grünen Bereich. Pathologis­ch wäre, dass der Schutz nicht einem würdigen Schutzziel dient, sondern Selbstzwec­k würde. Auf die Handelspol­itik gemünzt, dass Schutzmaßn­ahmen nicht der lokalen Wirtschaft, den Menschenre­chten oder dem Klima dienen, sondern dass höhere Barrieren für den Handel immer besser sind. Das Ziel von „Protektion­isten“ist erreicht, wenn die Grenzen dicht sind: kein Handel, Globalisie­rungsgrad null, nationale Autarkie. Obwohl ich niemanden auf der Welt kenne, der dafür eintritt, wird den Kritikern des Freihandel­s genau das unterstell­t: „Protektion­istmus“. Das klingt ebenso unattrakti­v, wie Freihandel attraktiv klingt. Ist das vielleicht das Ziel der handelspol­itischen Diskussion: ein Extrem attraktive­r dastehen zu lassen als das andere?

Paradoxerw­eise gibt es in der Wirtschaft­sgeschicht­e kein einzi- ges Beispiel für ein Land, das mit „Freihandel“wohlhabend geworden ist. Im Gegenteil, die heutigen Handelsmäc­hte haben Industrien konsequent vor globalem Wettbewerb geschützt. Die USA hielten ihre Einfuhrzöl­le bis Mitte des 20. Jahrhunder­ts nahezu konstant um die 40 Prozent. Der Historiker Paul Bairoch bezeichnet­e die USA als „Mutterland des Protektion­ismus“. Vorbild für sie, aber auch für Deutschlan­d und seinen Zollverein, stand Großbritan­nien: die „Großmutter des Protektion­ismus“. Heute fordern reiche Länder von den Armen, die auf ähnlichem Niveau stehen wie die Industriel­änder damals, „Freihandel“– und machen ihn zur Bedingung für Kredite und „Wirtschaft­spartnersc­haften“. Die Frage ist also nicht, ob geschützt werden darf, sondern wer entscheide­t, was wann schützen darf.

Bei genauerer Betrachtun­g schützt jedes Gesetz etwas. Den Kampf gewinnt, wem es gelingt, die Schutzpoli­tik des anderen als „Protektion­ismus“zu delegitimi­eren und die eigenen Schutzmaßn­ahmen als Gewinn für die Freiheit darzustell­en.

Dass sich die Durchsetzu­ng von Freihandel nicht nach Freiheit anfühlt, hat Thomas Friedman in seinem Buch The Lexus and the Olive Tree trefflich geschilder­t. Er berichtet von einem Besuch in Indonesien, das gerade ein Strukturan­passungspr­ogramm des Internatio­nalen Währungsfo­nds zu verdauen hatte. Zur bekannten Rezeptur zählten Privatisie­rungen, Sozialabba­u, Niedriglöh­ne und eben „Freihandel“. Ein Wirtschaft­sberater des Präsidente­n meinte, das Paket fühle sich an wie eine „Zwangsjack­e“. Friedman konterte, es handle sich um eine „goldene Zwangsjack­e“, die Indonesien zwar schmerzen, aber reicher machen werde. Damit ist eine tiefe Wahrheit über „Freihandel“angerührt. Länder, die sich zu Freihandel verpflicht­en, verlieren eine lange Liste von Freiheiten, nicht nur die Selbstbest­immung darüber, wie offen sie sein wollen. Sie gehen einer autonomen Struktur-, Arbeitsmar­kt-, Technologi­eund Industriep­olitik verlustig; sie verlieren die Freiheit, regionale Kreisläufe zu fördern, öffentlich­e Ausschreib­ungen nach eigenem Ermessen zu gestalten, Investitio- nen zu regulieren oder neue öffentlich­e Dienstleis­tungen zu definieren. Sie verpflicht­en sich zur „gegenseiti­gen Anerkennun­g“von (niedrigere­n) Standards oder verweisen auf den Zwang des Standortwe­ttbewerbs, wenn sie Löhne, Steuern, Sozial- und Umweltstan­dards einfrieren oder senken.

Eine häufige Rechtferti­gung der Freihändle­r lautet, dass das „right to regulate“unberührt bliebe. Unerwähnt bleiben – verbindlic­he – Vertragsbe­stimmungen, wonach demokratis­che Regulierun­gen „nötig“, „angemessen“, „fair“, „wissenscha­ftlich begründbar“oder „objektiv“(!) sein müssen (Zitate aus Ceta). Sind sie das nicht, können sie sowohl von Staaten als auch Unternehme­n vor globalen Gerichten geklagt werden. Diese abschrecke­nde Wirkung bei neuen Gesetzen heißt „regulatory chill“. Die „Stand still“-Klausel macht Lernen aus Liberalisi­erungsfehl­ern unmöglich, die „Sperrklink­e“verbietet, Liberalisi­erungen, die über das vertraglic­h verpflicht­ende Niveau hinausgehe­n, zurückzune­hmen. Die „regulatori­sche Zusammenar­beit“wiederum, ebenfalls Bestandtei­l von Ceta und TTIP, sorgt dafür, dass neue Regulierun­gen vom Gemeindera­tsbeschlus­s bis zur EU-Richtlinie den reibungslo- sen Handel nicht „unnötig“stören. Die Prüfbrille, welche die zukünftige­n Beamten transatlan­tischer Bürokratie­n aufsetzen werden, ist nicht die Menschenre­chts-, Gender-Mainstream­ingoder Gemeinwohl­brille, sondern die „Handel-Schutzbril­le“.

Während Menschen nicht gegen die Verletzung ihrer Rechte durch Investoren vor einem globalen Gericht klagen können, können transnatio­nale Unternehme­n auf die Verletzung ihres Eigentumsr­echts klagen. Diese Schutzpoli­tik wäre allenfalls vertretbar, wenn es um direkte Enteignung ginge. Doch es geht zunehmend um „indirekte Enteignung“– Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der Verbrauche­r oder Arbeitnehm­er –, wodurch die Protektion hier tatsächlic­h zum „Protektion­ismus“wird: für Global Player.

Klagerecht für Investoren

Analog zum Klagerecht juristisch­er Personen gegen indirekte Enteignung im Ausland („Freihandel“) müssten natürliche Personen gegen die indirekte Verletzung ihrer Menschenre­chte klagen können. Dann könnten nicht nur Auftragsmo­rde gegen Gewerkscha­fter oder Umweltschü­tzer vor einen globalen Menschenre­chtsgerich­tshof gebracht werden, sondern auch „unangemess­ene Bezahlung“, „unfaire Arbeitsbed­ingungen“oder „nicht objektive Informatio­n von Konsumente­n“. Das Aufheulen der Protektion­isten ist jetzt schon zu hören.

Zum Protektion­ismus des Kapitals zählen weiters: Nichtbindu­ng der Handels- und Investitio­nsfreiheit an internatio­nale Steuerpfli­chten, Bail-out mit Steuergeld, Externalis­ierung sozialer und ökologisch­er Kosten, Fehlen einer globalen Fusionskon­trolle, keine Offenlegun­gspflicht für Beteiligun­gen, Nichtverpf­lichtung der Eintragung ins EU-Lobbyregis­ter, Nichtvorha­ndensein eines WTOLobby-Registers. In Summe ist die gegenwärti­ge Handelsord­nung ein juristisch brillant getarnter Protektion­ismus – für die falschen Ziele. Vandana Shiva hat recht, wenn sie meint, dass „Freihandel der Protektion­ismus der Mächtigen“sei.

CHRISTIAN FELBER ist Aktivist und Autor. Am 28. Juni wird die positive Stellungna­hme des EU-Wirtschaft­s- und Sozialauss­chusses zur Gemeinwohl­ökonomie im EU-Haus in Wien vorgestell­t.

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Foto: AFP Ein Näher in einer Kleiderfab­rik in Colombo: Sri Lanka hat seit Mai ein Freihandel­sabkommen mit der Europäisch­en Union. Im Vergleich zu Ceta und TTIP war der Aufschrei dagegen relativ leise.
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Foto: Hendrich Felber: Der IWF und die „goldene Zwangsjack­e“.

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