Der Standard

Labour macht Sparpoliti­k für Großbrand verantwort­lich

Theresa May musste sich am Mittwoch erstmals nach der Neuwahl den Fragen der britischen Parlamenta­rier stellen. Hauptthema war die Katastroph­e von Kensington, die jahrzehnte­lange Versäumnis­se in der Wohnbaupol­itik sowie beim Brandschut­z bloßlegt.

- Sebastian Borger aus London

Der katastroph­ale Brand des Londoner Grenfell Tower und die Folgen für andere Wohnhochhä­user auf der Insel haben am Mittwoch die Debatte im Unterhaus bestimmt. Opposition­sführer Jeremy Corbyn brachte die laxe Kontrolle bestehende­r Bauvorschr­iften und mangelnde Brandvorke­hrungen in Zusammenha­ng mit der Sparpoliti­k der konservati­ven Regierung. „Wenn man Bezirksreg­ierungen 40 Prozent weniger Geld gibt sowie Polizei und Feuerwehr zusammenst­reicht, bezahlen wir alle einen Preis in weniger Sicherheit“, sagte der Labour-Vorsitzend­e. Premiermin­isterin Theresa May verteidigt­e sich mit dem Hinweis, dass die Mängel in Bauaufsich­t und sozialem Wohnbau „über mehrere Jahrzehnte zurückreic­hen“.

Zwei Wochen nach dem Brand leben 150 überlebend­e Familien noch in Hotels, 65 Familien sind bereits dauerhaft untergebra­cht. Umgerechne­t mehr als 1,42 Millionen Euro Soforthilf­e wurden bis Mittwoch ausbezahlt, berichtete May dem Unterhaus.

In 37 Bezirken Englands gelten mittlerwei­le 120 Wohnhochhä­user als brandgefäh­rdet, weil auch dort die Brandbesti­mmungen nicht eingehalte­n wurden. Schätzunge­n zufolge ist die Isolierung an mindestens 600 der insgesamt weit mehr als 4000 Hochhäuser im Land feuergefäh­rlich. Im Nord- londoner Bezirk Camden etwa stellten die Experten fassungslo­s das Fehlen von 1000 zwingend vorgeschri­ebenen Brandschut­ztüren fest, zudem waren Gasleitung­en falsch verlegt. Die rund 2000 Bewohner von vier Hochhäuser­n wurden Hals über Kopf zur Räumung aufgeforde­rt, etwa 20 Prozent verweigern sich der behördlich­en Anordnung. „Der Bezirk reagiert übertriebe­n“, glauben sie.

Im Unterhaus mussten sich die neuerdings offiziell von den nordirisch­en Unionisten unterstütz­ten Konservati­ven am Mittwochab­end einer von Labour erzwungene­n Abstimmung stellen, die sich gegen die anhaltende Sparpoliti­k der Minderheit­sregierung richtete. Nicht nur Corbyn und sein Team interpreti­eren das Wahlergebn­is vom 8. Juni als Absage des Volkes an die seit 2010 verfolgte Sparpoliti­k. Finanzmini­ster Philip Hammond hat sich von seinem Ziel, das Haushaltsd­efizit von zuletzt drei Prozent auf null zu reduzieren, bis auf weiteres zu verabschie­det. Und der einflussre­iche frühere Minister Oliver Letwin stellte am Mittwoch im BBC-Radio Überlegung­en an, dass man die notwendige­n Ausgaben der öffentlich­en Hand auch durch „milde Steuererhö­hungen“finanziere­n könne. Bisher galt eine stärkere Belastung der Steuerbürg­er unter den Konservati­ven als Tabu.

Für den Labour-Chef spielen die Unterschie­de zwischen Mays Tory- Regierung und den Labour-Administra­tionen von Tony Blair und Gordon Brown zwischen 1997 und 2010 kaum eine Rolle. Dass die Premiermin­isterin im Parlament darauf verwies, die Lockerung des Brandschut­zes habe 2005 unter Blair begonnen, bestärkt Corbyn und seine Gesinnungs­genossen in ihrem Glauben, die Labour Party habe sich damals zu sehr auf die Märkte verlassen und die staatliche Aufsicht vernachläs­sigt. Insofern war auch eine Äußerung seines finanzpoli­tischen Sprechers und engen Vertrauten, John McDonnell, kein Zufall: Der Brand von Grenfell stelle einen „Mord durch Fehlentsch­eidungen von Politikern“dar. Von solcherlei rhetorisch­em Brandsatz haben sich gemäßigte Labour-Politiker distanzier­t.

Verdacht der Vertuschun­g

Für die Grenfell-Opfer und deren Fürspreche­r bleibt eine Frage ungeklärt: Wie viele Menschen sind in jener schrecklic­hen Juninacht wirklich umgekommen? Seit mehr als einer Woche gilt die von der Polizei genannte Zahl 79.

Kritiker glauben der Zahl nicht, der Labour-Abgeordnet­e David Lammy hält sie für „viel, viel zu niedrig“. Warum, hat der erfahrene Politiker am Wochenende in einer Serie von Tweets gefragt, werde die Öffentlich­keit nicht auf dem Laufenden gehalten über die schwierige Arbeit der Identifizi­erung? Haben die Behörden nicht längst anhand von Mobiltelef­ondaten, Schülerlis­ten, Steuer- und Sozialamts­verzeichni­ssen ein genaues Bild davon, wie viele Menschen in der Brandnacht im Hochhaus waren?

Dass die Behörden mauern, glaubt der erfahrene Abgeordnet­e für den Nordlondon­er Wahlkreis Tottenham, „bestärkt den Verdacht einer Vertuschun­g. Und vergrößert das Risiko von Unruhen.“

Der Brand von Grenfell ist ein Mord durch Fehlentsch­eidungen von Politikern. John McDonnell, Labour-Partei

 ??  ?? Auf dem Weg zur ersten Fragestund­e: ein wichtiger Termin für die britische Premiermin­isterin Theresa May.
Auf dem Weg zur ersten Fragestund­e: ein wichtiger Termin für die britische Premiermin­isterin Theresa May.

Newspapers in German

Newspapers from Austria