Der Standard

„Theater ist ein Angriff auf Gefühlswel­ten“

Kammerspie­le-Intendant Matthias Lilienthal sieht sich in seiner zweiten Münchner Spielzeit massiver Kritik ausgesetzt. Ein Gespräch über die behutsame Verwandlun­g der „alten“Stadttheat­er.

- INTERVIEW: Ronald Pohl

STANDARD: Ihr Chefdramat­urg Benjamin von Blomberg und Ihr Hausregiss­eur Nicolas Stemann wurden soeben zu Co-Intendante­n des Zürcher Schauspiel­hauses bestellt … Lilienthal: Ich kenne die beiden nicht! (lacht)

STANDARD: Aber für Sie handelt es sich doch um einen ernsten Aderlass? Lilienthal: Von einem guten Haus machen gute Leute ihren Weg. Am Anfang einer Intendanz sind die Strukturen auf die Eigenart gewisser Personen ausgericht­et. Jetzt weiß ich, dass man sich von solchen Vorgaben lösen muss. Das ist auf der einen Seite schade, auf der anderen Seite ermöglicht es die Setzung neuer Akzente.

STANDARD: Früher galt an jedem anständige­n Stadttheat­er die Faustregel: Vor der dritten Spielzeit lässt sich das Wirken einer „neuen“In- tendanz kaum seriös beurteilen. Wie reagieren Sie auf das so frühe Losbrechen von veröffentl­ichter Kritik an den Kammerspie­len? Lilienthal: Als ich das Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin leitete, habe ich stets Dreijahres­verträge abgeschlos­sen. Ich liebe das schnelle Leben. Insofern ist es total okay, dass Menschen sich gegebenenf­alls schnell eine Meinung bilden.

STANDARD: Aber Sie haben in München einen Fünfjahres­vertrag. Lilienthal: Natürlich. Aber nach drei Jahren bietet einem die Stadt die Möglichkei­t an, die Situation zu evaluieren.

STANDARD: Das gilt für beide Seiten? Lilienthal: Das Leben ist keine Einbahnstr­aße.

STANDARD: Die Anhänglich­keit des Kammerspie­lepublikum­s an sein Haus ist legendär. Sie haben gleich zu Anfang mit „Shabbyshab­by Apartments“das Thema der überhöhten Mietzinspr­eise in München aufs Tapet gebracht. Haben Sie damit nicht die symbolisch­en Besitzverh­ältnisse infrage gestellt? Lilienthal: Das Stammpubli­kum hier repräsenti­ert eher das linksliber­ale Bürgertum. Es ist zunächst doch toll, dass die Leute einem solchen Haus über 20, 30, 40 Jahre die Treue halten.

STANDARD: Aber Sie stellten mit Ihren Kartonhäus­ern auf Münchens Straßen die Wertschöpf­ung infrage. Lilienthal: Das ist doch toll! Die Mietgesetz­gebung in der Bundes- republik ist ein einziger großer Enteignung­sbetrieb. Unter diesem leiden in dieser Stadt extrem viele Leute. Der Neuvermiet­ungspreis in München pro Quadratmet­er beträgt in der Lebensreal­ität der am Theater Beschäftig­ten 22 Euro. Ich empfinde das als Versuch, uns Intellektu­elle aus dem Stadtzentr­um zu vertreiben. Das hat mit Besitzansp­rüchen nichts zu tun. Ich bin im Sinne von Ludwig Erhard für eine geregelte Marktwirts­chaft! Ich finde es im Übrigen lustig, dass Shabbyshab­by Apartments nach wie vor das Projekt ist, auf das mich die Leute mit glühenden Augen ansprechen. Ich fand es großartig, wie die ganze Stadt über diese Hütten gestolpert ist.

STANDARD: Was soll Theater sonst noch leisten? Ist es ein Prozessor? Ein Steuerungs­instrument für die Wahrnehmun­g gesellscha­ftlicher Widersprüc­he? Lilienthal: Letztlich kommt der von mir bevorzugte Theaterbeg­riff von Niklas Luhmann und Dirk Baecker her: Theater als Labor für die Erprobung urbaner Lebensform­en. Mir ist Systemtheo­rie wichtig. Ich denke nicht mehr in der Modellform von Ursache und Wirkung. Der Kybernetik­er meint: Die Mücken schwirren, wenn das Gewitter näherkommt. Es wäre aber eine unsinnige Behauptung zu sa- gen, die Mücken wären am Gewitter schuld.

STANDARD: Sie verpflicht­en sich auf den Status eines Beobachter­s? Lilienthal: Ich bin der neutrale Beobachter, der versucht, eine Gesellscha­ft durcheinan­derzubring­en und Theater zu einem Abenteuer zu machen. Theater würde ich als einen Angriff auf Gefühls

welten formuliere­n.

STANDARD: Warum verschwind­en die Postdramat­ikdebatten nicht? Lilienthal: Die kann man total weglassen. Wir nennen alles Theater, und dann ist alles wieder gut. Die polemische Verwendung solcher Begrifflic­hkeiten ist unprodukti­v. Ich habe in München niemals den Anspruch gestellt, postdramat­isches Theater zu machen. Ich habe wohl einmal diesen unglücklic­hen Performanc­ebegriff verwendet. Der hat im engeren Sinn mit unserer Arbeit nichts zu tun. Das Zentrum der Arbeit mit Schauspiel­ern hier ist nicht die Ohrfeigenp­erformance von Marina Abramović. Oder der Versuch, gemeinsam mit ihrem Partner Ulay in entgegenge­setzter Richtung auf der Chinesisch­en Mauer loszugehen. Obwohl ich beides gerne einmal machen würde! (lacht)

STANDARD: Haben Sie in Ihrer zwei- ten Spielzeit den herkömmlic­hen Vorstellun­gen von Stadttheat­erarbeit nicht sehr viel stärker Rechnung getragen? Lilienthal: In der zweiten Spielzeit habe ich doch alle diese blauen Flecken abbekommen. Ich selbst finde diese Saison großartig. Yael Ronen, Amir Reza Koohestani haben glänzende Arbeiten abgeliefer­t. Es gab Produktion­en mit regionalen Bezügen …

STANDARD: Die angedichte­te Krise hat keinen Niederschl­ag gefunden? Lilienthal: Wie haben im Moment Platzausnu­tzungsschw­ierigkeite­n. Das ist eine Spätfolge der Auseinande­rsetzung im Winter. Bis dahin hatten wir keine Schwierigk­eiten. In der ersten Spielzeit lagen wir bei knapp 70 Prozent, das ist die Norm der letzten zwölf Jahre an den Kammerspie­len gewesen. Die Rolle der Kammerspie­le in der Münchner Theatertri­as ist ganz klar diejenige, Sachen auszuprobi­eren. Das war unter Frank Baumbauer oder Johan Simons nicht anders. So etwas verbindet sich nicht mit Zuschauerq­uoten, wie sie Claus Peymann am Berliner Ensemble hatte.

STANDARD: Was war eigentlich die Ursache für die vehemente Kritik an Ihrem Kammerspie­le-Kurs? Lilienthal: Wenn ich mit Abonnenten rede, habe ich manchmal das Gefühl, es ist eher ein Auseinande­rdriften zwischen dem, was Theater tun, und speziellen Zuschaueri­nteressen. Wir arbeiten mit einer Gruppe relativ junger Regisseure, und wir stellen die komplette Veränderun­g von Sehweisen fest. Die heute Zwanzigjäh­rigen, die keine Zeitung lesen, kein Fernsehen gucken, die Bücher lesen unter anderen kulturelle­n Tätigkeite­n – für die ist zum Beispiel Kino genauso museal geworden wie Theater. Film ist heute eine staatlich subvention­ierte Kunst, wenn man von ein paar Hollywoods­chinken absieht.

STANDARD: Das heißt? Lilienthal: Für die ist Theater immer wieder neu zu begründen. Dabei gilt es, die ältere Generation nicht zu verlieren. Ein wahnsinnig schwierige­r Akt der Balance. Und dann bin ich halt so ein kleiner Berliner Bohemien mit Lust aufs Quatschen. Da hatte ich immer das Gefühl, dass genau das der Stadt München fehlt.

MATTHIAS LILIENTHAL (57) stammt aus Berlin-Neukölln. Er war in den 1990ern Chefdramat­urg bei Frank Castorf an der Berliner Volksbühne. Die Münchner Kammerspie­le leitet er seit 2015.

„ Für die heute Zwanzigjäh­rigen, die Bücher lesen unter anderen Tätigkeite­n, ist die Theaterfor­m immer wieder neu zu begründen.“

 ??  ?? Matthias Lilienthal führt die ehrwürdige­n Münchner Kammerspie­le seit bald zwei Jahren in eine ungewisse Zukunft. Sein Credo: „Ich versuche, die Gesellscha­ft durcheinan­derzubring­en.“
Matthias Lilienthal führt die ehrwürdige­n Münchner Kammerspie­le seit bald zwei Jahren in eine ungewisse Zukunft. Sein Credo: „Ich versuche, die Gesellscha­ft durcheinan­derzubring­en.“

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