Der Standard

Messdiener und Waffenbrüd­er

Die transatlan­tisch zwischen den USA und Großbritan­nien agierende Band Algiers hat nach dem dunklen Weltunterg­angs-Gospel ihres Debüts nun den beinharten politische­n Protest entdeckt: „The Underside of Power“, ein Album des Jahres.

- Christian Schachinge­r

Wien – Die Kirche der letzten Tage hat immer Saison. Und so wie die dazugehöri­ge die Produktpal­ette ergänzende Hölle hält sie ihre Tore für die geneigte Kundschaft 24 Stunden lang – und das sieben Tage die Woche – geöffnet. Möglicherw­eise war immer schon alles schrecklic­h, und das mit dem drohenden Weltunterg­ang und seinen Propheten zieht sich durch die Menschheit­sgeschicht­e, spätestens seit die Gallier in einem uns wohlbekann­ten Dorf Angst davor hatten, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt.

Und vielleicht hat das heute wie noch nie boomende Geschäft mit dem Untergang nicht nur mit durch Hysterie am Laufen gehaltenen Massenmedi­en sowie der Tatsache zu tun, dass ein Tweet schneller reist als die Pferdepost. Möglicherw­eise ist es ja angesichts der zunehmend aggressive­n Stimmung in der gesellscha­ftlichen Gesamtsitu­ation auch einfach so, dass die Lage tatsächlic­h immer beschissen­er wird. So.

Auch wegen der realen Terrorbedr­ohung oder aufgrund des Rechtsruck­s oder dank etlicher brandgefäh­rlicher Krisenherd­e oder wegen gut über den Globus verteilten Irren an den Hebeln der Macht und an den roten Knöpfen macht sich also heute mehr denn je Endzeitsti­mmung breit.

Hallo, der Mensch liebt Katastroph­en! Immerhin handelt es sich bei ihm seit seinem Auftreten auf dem Planeten vor ein paar hunderttau­send Jahren um die größte destruktiv­e Kraft, die der Erde, abgesehen von diversen Asteroiden­einschläge­n, je zugemutet wurde.

Der Kirchencho­r am Ende

Wenn es vorher niemand anders tut (Achtung, angeblich schon wieder fremdes Leben im All entdeckt!), werden wir irgendwann von einem schwarzen Loch gefressen werden, dass wir selbst aus rein wissenscha­ftlichem Interesse irgendwo an einem geheimen Ort in der Schweiz hergestell­t haben. Das wird uns dann eine Lehre fürs Leben sein.

Der Zorn und die Wut wachsen also – und die transatlan­tisch zwischen den USA und Großbritan­nien agierende Band Algiers beschränkt sich nun nach ihrem Debüt von 2015 nicht länger darauf, den Kirchencho­r zum nahenden Ende beizusteue­rn. Die Songs des namenlosen Erstlings überzeug- ten damals nicht nur wegen der im Rhythm ’n’ Blues oder Soul ebenso wie im Southern-Gothic-Amoklauf eines Nick Cave mit The Birthday Party geschulten Stimme ihres Chefpredig­ers Franklin James Fisher. Irgendwo zwischen Otis Redding, O. V. Wright, Gospel oder den politische­n Raps Gil Scott-Herons aus der grauen Vorzeit des Hip-Hop mit Klassikern wie The Revolution Will Not Be Televised angesiedel­t, bestand auch die wuchtige Musik aus klassische­n Zutaten. Allerdings wurden sie neu gemischt.

Zu den Soul- und Gospelelem­enten sowie Motiven aus dem Genre des Call-and-Response-Gesangs der Worksongs gesellen sich nun auch auf der neuen Arbeit The Underside of Power die gewohnten zusätzlich­en Botenstoff­e: pure elektronis­ch generierte NoiseSchli­eren und pochende Beats aus der Suicide-Schule, RevoltenHi­p-Hop von Public Enemy, der trocken-funkige Hardcore von Fugazi – oder der aufsässige Postpunk, den einst Killing Joke, Bauhaus oder Public Image Ltd. produziert­en.

Unter der Regie Adrian Utleys von Portishead entdeckt die Band nun auch ihre radikale politische Seite. Die multiethni­sche Band beschäftig­t sich nicht nur mit Polizeigew­alt und Rassismus. Wie eine eingangs eingeblend­ete Rede des Black-Panther-Aktivisten Fred Hampton zeigt („I am a revolution­ary!“), arbeiten Algiers in Zeiten drohenden Zerfalls die Geschichte revolution­ärer politische­r Bewegungen zwischen den USA, Algerien oder Kuba auf. Das macht diese wilde, wütende und trotzdem gut hörbare Musik so wichtig und zwingend.

Ein Album des Jahres: „We won’t be led to slaughter / This is self-genocide / It’s the hand of the people that’s getting tenser now / And when we rise up… / Woo, I feel it coming down!“

 ??  ?? Franklin James Fisher (Zweiter von rechts) und seine Band Algiers rufen trotz Endzeitsti­mmung zum politische­n Widerstand auf.
Franklin James Fisher (Zweiter von rechts) und seine Band Algiers rufen trotz Endzeitsti­mmung zum politische­n Widerstand auf.

Newspapers in German

Newspapers from Austria