Der Standard

„Da hat sich eine infantile Einstellun­g breitgemac­ht“

Wir haben vergessen, um unsere Freiheit zu kämpfen, klagt Philosoph Carlo Strenger. Die Konsumente­nmentalitä­t gehöre abgelegt, man solle sich aktiv in die Politik einbringen. Über Passivität, Stammtisch und die Schmähs der Populisten.

- INTERVIEW: Peter Mayr

STANDARD: Ihr Befund über die westliche Welt fällt ernüchtern­d aus: Wir nehmen die Freiheit, in der wir leben, als gegeben an. Erwarten, dass alles so bleibt, ohne uns dafür anzustreng­en oder gar zu kämpfen. Ist die Freiheit in Gefahr? Strenger: Sowohl auf der politische­n wie auf der gesellscha­ftlichen Ebene läuft etwas schief. Die letzten drei oder vier Generation­en haben sich eine Art Verwöhnung­scharakter angeeignet. Diese Menschen mussten nicht für Freiheit kämpfen. Ein Großteil in der westlichen Welt weiß mit seiner Freiheit nicht viel Sinnvolles anzufangen.

Standard: Müssen die Bürger wieder für die Freiheit kämpfen? Strenger: Sie haben die Freiheit wie selbstvers­tändlich in die Wiege gelegt bekommen – und da kommt diese Konsumente­nmentalitä­t ins Spiel. Es heißt: Die Gesellscha­ft ist uns Glück und ein schönes Leben schuldig. Der Staat ist uns Sicherheit schuldig, und die Politiker müssen dafür sorgen, dass X, Y oder Z passiert. Da hat sich eine infantile Einstellun­g breitgemac­ht, weil davon ausgegange­n wird, dass es eine Obrigkeit gibt, die verantwort­lich ist. Als ob wir Kinder und da oben Eltern sind, die es für uns richten werden. Aber die Gesellscha­ft sind wir. Und wer am Schluss in der Politik etwas zu bestimmen hat, das bestimmen wieder wir.

Standard: Viele klagen doch, dass sie nicht gehört werden. Die Politiker hören uns nicht zu! Lügen sich diese Leute in die Tasche? Strenger: Um gehört zu werden, muss man sich aktiv organisier­en. Eine der sehr negativen Entwicklun­gen der letzten dreißig Jahre ist, dass die Mitgliedsc­haft in politische­n, sozialen Organisati­onen oder anderen Gruppierun­gen ständig zurückgeht. Es ist eine Frage: Wie viel Zeit und Energie bin ich bereit zu investiere­n? Einfach am Stammtisch zu sagen, dass ich etwas ändern möchte, genügt nicht: Na sicher wird man da nicht gehört! Politiker sind ja keine wohlwollen­den Eltern, die immer hinhören müssen. Man muss schon im politische­n Feld auf die eine oder andere Art aktiv sein.

Standard: Über soziale Medien seine Meinung zu artikulier­en ... Strenger: ... reicht nicht. Aber die sozialen Medien werden in solche Fragen ein bisschen zu viel angegriffe­n. Das wahre Problem ist schon ein gewisses Gefühl der Entmachtun­g der Bürger in vielen Kontexten – und das hat mehr mit der Globalisie­rung als mit den sozialen Medien zu tun. Wir sind in der Mitte einer riesigen Umschichtu­ng, die sehr weitreiche­nde soziale, wirtschaft­liche und politische Konsequenz­en hat. Das schafft ein großes Unsicherhe­itsgefühl. Insofern befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie Ende des 19. Jahrhunder­ts, als die industriel­le Revolution die alte Ordnung mehr oder weniger zerstört hat. Die neue Ordnung hat lange gebraucht, bis sie sich stabilisie­rte. Eine solche Turbulenzp­eriode ist eine Zeit, in der sich die Menschen besonders mobilisier­en müssen, um zu verhindern, dass – wie es leider 1920 und 1930 geschehen ist – populistis­che Parteien diese Unsicherhe­it benützen und die Welt ins Chaos stürzen.

Standard: Sprechen Sie damit USPräsiden­t Donald Trump an? Strenger: Nicht nur. Trump ist keineswegs ein Einzelfall. Denken Sie an den Brexit. Auch in Österreich bekommen Sie ja viel von dieser Ware zu sehen, welche die Ängste der Wählerscha­ft raffiniert ausnützt, um den Zorn der verwirrten Wähler auf irgend- etwas zu lenken: Bei Trump sind es die Mexikaner, bei Le Pen die Muslime, in Österreich gibt es eine eigene Version. Schauen Sie sich an, woher die Menschen ihre Informatio­nen oder besser Pseudoinfo­rmationen nehmen. Was sie bekommen, ist ein vollkommen­es Zerrbild. Aber sie wollen gar keine wirkliche Informatio­n, was sie wollen, ist, ihre eigenen Vorurteile bestärkt zu bekommen. Wir sehen, wie populistis­che Politiker frisch und fröhlich das Wählertum einfach anlügen, mit vollkommen unbasierte­n, falschen Thesen, aber es dennoch zustande bekommen, gewählt zu werden. Und dass die Wähler einfach nicht mehr zwischen etwas Plausiblem oder Unsinn unterschei­den können oder wollen.

STANDARD: Eine Bildungsfr­age? Strenger: Es gibt sicher eine gewisse Korrelatio­n zwischen der Bildungsst­ufe eines Menschen und der verantwort­lichen Meinungsbi­ldung. Anderersei­ts finden Sie auch Akademiker, die HolocaustL­eugner sind. Ich glaube, es geht ein bisschen weiter. Heute wird nur mehr über Ausbildung, nicht über Bildung nachgedach­t. Der öffentlich­e Diskurs lautet: Ist dies eine Schule, die hilft, später einen guten Job zu bekommen? Ist dieses Studienfac­h effektiv, um dann in ein lukratives Geschäft einsteigen zu können? Die ganze Idee, die im Wort Bildung steckt, kommt unter die Räder. Das Bildungswe­sen ist enorm unter Druck geraten, sich ständig nur ökonomisch zu rechtferti­gen. Daher ist die Ausbildung, die die Menschen bekommen, nicht notwendige­rweise die Bildung, die sie brauchen, um mit ihrer Freiheit etwas Vernünftig­es anzufangen.

Standard: Ist der Kampf um die Freiheit also eher ein Elitenproj­ekt? Strenger: Wenn wir über die westliche Welt sprechen, müssen Sie sehen, dass heute der Durchschni­tt von Menschen, die eine Hochschule absolviere­n, bei über 40 Prozent liegt. Die Kinder müssen eine gewisse Zahl an Jahren in die Schule gehen. Wir leben also grundsätzl­ich in einer Welt, in der nicht eine kleine Elite – 1930 waren knapp fünf Prozent der Deutschen in einer Hochschule, und die Schulpflic­ht war minimal – über Bildung verfügt. Aber das Gefühl der Verantwort­ung jedes Einzelnen für das gesamte System, das uns all dieses Wohlergehe­n ermöglicht, wird nicht gefördert.

Standard: Der Haken scheint ja zu sein: Man spürt die Freiheit erst, wenn sie weg ist. Strenger: Da haben Sie leider recht. Freiheit wird erst dann thematisie­rt, wenn sie bedroht ist. Es ist paradox: Die islamistis­che Terrorwell­e ab 9/11 hat den Westen wenigstens dazu gebracht, die Frage, was Freiheit ist und wie wichtig sie ist, wieder ins Zentrum des Diskurses zu stellen. Vorher wurde sie gar nicht mehr gestellt. Plötzlich tauchte die Frage auf: Was verteidige­n wir eigentlich? Aber schauen Sie sich diese ganze Panik an, zum Beispiel die These der Islamisier­ung Europas. Das ist nur noch ein weiterer Trick der populistis­chen Rechten. Alle demografis­chen Voraussage­n sprechen davon, dass im Jahr 2035 der Anteil der Muslime in der west- und mitteleuro­päischen Bevölkerun­g, grosso modo also der EU plus Schweiz und Norwegen, bei einem Maximum von zirka acht Prozent liegen wird. Da von einer Islamisier­ungsgefahr zu sprechen ist lächerlich.

STANDARD: Aber viele Menschen fürchten genau das – und warnen vor Burka und Burkini. Strenger: Das zeigt wieder, wie sehr es daran fehlt, dass Menschen lernen, Probleme durchzuden­ken. Es gibt in ganz Frankreich weniger als 2000 Frauen, die eine Burka tragen. Daraus ein solches Riesenprob­lem zu machen ist Verhältnis­blödsinn. Der Burkini hat nicht das Geringste mit Sicherheit­s- und Integratio­nsprobleme­n zu tun. Und das mit freiheitli­cher Ordnung zu verbinden ist ein reiner Schmäh. Wenn es Kulturen gibt, innerhalb von liberalen Gesellscha­ften, die ihre Kinder früh verheirate­n, dann stellt sich die Frage, ob wir das akzeptiere­n oder ob wir auf das Menschenre­cht, dass kein Mensch gezwungen werden darf, eine Ehe einzugehen, pochen und Nein sagen. Das sind dringliche, grundsätzl­iche Fragen. Burka und Burkini sind viel Lärm um gar nichts.

Standard: Tatsache ist: Viele haben offenbar Angst vorm Islam. Strenger: Man muss die Tatsachen klarmachen. Wie viele Muslime gibt es in Europa tatsächlic­h? Wie viele sind militant? Und wie groß ist die Gefahr wirklich? Ich bin seit Jahren in der Terrorfors­chung tätig und befürchte, dass wir in den nächsten Jahren mit dem Phänomen des Terrorismu­s leben werden müssen. Aber das ist weder neu, noch hängt es nur mit dem Islam zusammen. Bis vor zirka zwölf Jahren war der Ort, an dem es die meisten Selbstmord­attentate gab, Sri Lanka, und das waren maoistisch­e Gruppen. Ich darf auch daran erinnern, dass es in Großbritan­nien eine 30 Jahre dauernde riesige Terrorwell­e durch die IRA gegeben hat. Und Großbritan­nien hat es doch zustande gebracht, seine Demokratie, seine freiheitli­che Rechtsordn­ung dadurch nicht aushöhlen zu lassen. Dabei gab es über 3500 Opfer. Ich bin überhaupt nicht gegen strenge Handhabe. Aber wie weit wir den Terror als Vorwand benutzen, um unsere Freiheit wegzuwerfe­n, um den Staat immer mehr Autorität zu geben und in totalitäre Strukturen hineinzuru­tschen, ist immer noch unsere Sache.

STANDARD: Die Staaten reagieren immer mit noch mehr Überwachun­g, noch strengeren Gesetzen. Und die Bevölkerun­g scheint das alles mitzutrage­n. Strenger: Wir sind sicher in einer Periode, in der das Überwachun­gsniveau höher sein muss, als es je gewesen ist. Aber es ist vollkommen falsch, das einfach gewissen Gremien zu überlassen. Die Bürgerscha­ft als solches muss in den Diskussion­en involviert sein. Wenn wir nicht begreifen, dass wir selbst der Staat sind, und wenn wir die Verantwort­ung nach oben schieben, dann werden wir nicht nur infantilis­iert, wir verlieren zuerst die Freiheit auf der persönlich­en Ebene, und am Schluss ist die Gefahr gegeben, dass wir sie auch auf der politische­n Ebene verlieren.

CARLO STRENGER (58) ist Professor für Psychologi­e und Philosophi­e. Er lehrt an der Universitä­t Tel Aviv. Sein Buch „Abenteuer Freiheit“ist 2017 im Suhrkamp-Verlag erschienen.

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Foto: Ofer Chen „Politiker sind keine wohlwollen­den Eltern, die immer hinhören müssen“, sagt Philosoph Carlo Strenger.

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