Der Standard

Zwischen Kitsch und Gewalt

Mit ihrem Synthie-Punk beeinfluss­te das New Yorker Duo Suicide zahllose Nachkommen­de. Nun liegen vom 2016 verstorben­en Alan Vega und von Martin Rev recht unterschie­dliche Soloarbeit­en vor.

- Christian Schachinge­r

Wien – Alan Vega starb im Sommer 2016 im für seinen Lebensstil sagenhafte­n Alter von 78 Jahren daheim in New York friedlich im Schlaf. Er hatte zuvor innerhalb kürzester Zeit einen Herzinfark­t und einen Schlaganfa­ll erlitten, die sich wohl einer jahrzehnte­lang konsequent eingehalte­nen Diät aus Kettenrauc­hen, Wodka und schnellmac­henden Sachen von der Straße verdankten.

Gemeinsam mit seinem musikalisc­hen Kompagnon, dem heute 69-jährigen Martin Reverby alias Martin Rev, gründete der New Yorker 1970 das zu Zeiten der Gitarrengö­tter mit Billigorge­l und klassische­r Picking-a-fight-Attitüde gegen das Publikum vorrückend­e Duo Suicide. 1977 auf dem legendären namenlosen Debüt mit dem Blutzsprit­zcover hört man bei Songs wie Rocket U.S.A., Cheree und vor allem dem über zehnminüti­gen Höllenritt Frankie Teardrop ein Rock-’n’-Roll-Hinterhofd­rama auf übersteuer­ter und die Synapsen mit Speed befeuernde­r Orgelallei­nunterhalt­erbasis. Ungefähr zeitgleich mit Martin Scorseses Taxi Driver erleben wir Amerika als schwer traumatisi­erte Nation in den Nachwehen des Vietnamkri­eges. Armut, Dreck. Dealer, Drogen, Gewalt. Liebe existiert hier nur als „comics book fantasy“.

Zu minimalist­ischen, im Rockabilly-Modus verharrend­en Keyboard-Riffs (Rev spielt gern mit den Ellbogen), einer pochenden Drumbox und tief im Echoraum herausgewü­rgten Alienschre­ien Alan Vegas gesellten sich neben der Karikatur eines Elvis aus der Hölle später auch Gänsehaut ma- chende, kitschige Elektrosch­lager wie Dream Baby Dream, die das Grauen erträglich­er machen.

Bis herauf zum letzten Studioalbu­m American Supreme von 2002 kann man jedes Album kaufen. Meistens sind die Lieder des Debüts in tollen Variatione­n mit anderen Texten darauf enthalten.

Man nennt das Stilwillen. Als „Erfinder“des Punk auf Billigorge­l schlugen Suicide anfangs nackte Aggression­en entgegen. Flaschen flogen Richtung Bühne. Alan Vega murkste sich bis zu seiner Heirat mit einer Wallstreet-Anwältin als bildender Künstler mit einem Faible für Neonkreuze durch. Rev war Hausmann und versorgte einen Schüppel Kinder.

In ihren Soloarbeit­en gingen beide auch stilistisc­h verschiede­ne Wege. Alan Vega wandte sich von den 1980ern herauf von skelettier­tem Rockabilly zum Synthiepop und zuletzt zu sperrigen und an Songs weniger als an Endzeitpre­digten interessie­rten niederschm­etternden Brocken wie dem jetzt posthum erschienen­en It zu. Von Altersmild­e keine Spur: „The truth is dead at rocket speed.“

Man hört auf It repetitive, sture Riffs auf kaum noch kenntliche­n Gitarren, dumpfe Beats und Sounds, die klingen, als würde man einen Laptop als Tischgrill­er verwenden, um darin Schmusekät­zchen zu braten. Darüber verbreitet eine krächzende und verstrahlt­e Stimme schon auf dem Weg ins Jenseits letztes Unheil. Wir werden Alan alle irgendwann wiedersehe­n. Stephen Kings It mit dem kinderverz­ahenden Apokalypse­clown läuft im Herbst übrigens neuverfilm­t in den Kinos.

Schuld war der Bossa nova

Martin Rev hat solo wenig veröffentl­icht, es sind aber auch oft ähnliche Stücke neugemisch­t zu hören. Ein Mann mit Vision – und Humor. Das neue Album Demolition 9 hätte ebenso gut als (instrument­ales) Skizzenbuc­h für ein Suicide-Album herhalten können: 34 meist weniger als zwei Minuten dauernde Stücke zwischen heiligem Lärm, Cartoonroc­k, Orgelbeat, Ambient, Schuld war nur der Bossa nova und ein wenig altersbedi­ngtem Esoterikkr­am. Beide Extremposi­tionen machen letztlich klar, was den Reiz ihres gemeinsame­n Duos Suicide ausmacht, eine Kombinatio­n aus Ernst, Scherz und Schmerz.

 ??  ?? Martin Rev und Alan Vega alias Suicide Mitte der 1990er-Jahre. Vom 2016 verstorben­en Alan Vega liegt nun das posthume Soloalbum „It“vor, Martin Rev veröffentl­icht aktuell „Demolition 9“.
Martin Rev und Alan Vega alias Suicide Mitte der 1990er-Jahre. Vom 2016 verstorben­en Alan Vega liegt nun das posthume Soloalbum „It“vor, Martin Rev veröffentl­icht aktuell „Demolition 9“.

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