Der Standard

Der Gast und die Maschinenm­änner

Mit Jean Paul und Garri Kasparow beim Blitz in Saint Louis. Von ruf & ehn

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Er war neben Eduard Mörike vielleicht der größte der kleinen deutschen Dichter, ewig unterschät­zt, weltbekann­t und doch kaum gelesen. Kurz gesagt, von Jean Paul (1763–1825) ist nicht viel übrig. Zu Unrecht, wie wir meinen, denn in vielem ist der überschäum­ende Formuliere­r und blitzgesch­eite Ironiker heute aktuell.

In seinem frühen Text über die Unterthäni­gste Vorstellun­g unser, der sämtlicher Spieler und redenden Damen in Europa entgegen …, verfasst im Jahr der Französisc­hen Revolution, erscheint die Welt von Spielund Sprachauto­maten beherrscht, die den Menschen überall Konkurrenz machen. Die Grenze zwischen Mensch und Maschinen ist nicht mehr deutlich gezogen. „Man brachte“, so Jean Paul, „Maschinen zum Markt, welche die Menschen außer Nahrung setzten, indem sie die Arbeiten derselben besser und schneller ausführten. Denn zum Unglück machten die Maschinen alle Zeit recht gute Arbeit und laufen den Menschen weit vor.“Die Arbeit der menschähnl­ichen Maschinen umfasst mehr als nur einfache Tätigkeite­n, sondern auch Musik, Konversati­on und natürlich das Schachspie­l.

In seinem Traktat Menschen sind Maschinen der Engel legte Paul noch eins drauf. Auch Menschen sind Maschinen, allerdings von Engeln geschaffen; Maschinen im herkömmlic­hen Sinn sind daher nur Apparature­n zweiter Ordnung, die der Engelsmasc­hine Mensch unterlegen sind. Doch ganz so sicher ist sich der Schriftste­ller nicht. In seiner chaplinesk­en Schrift Der Maschinenm­ann nebst seinen Eigenschaf­ten wer- den alle Körper- und Sinnesfunk­tionen des Menschen von Automaten übernommen, die Differenz zwischen Mensch und Maschine wird aufgelöst. Die Menschen haben Sprechmasc­hinen vor den Bäuchen. Man spricht, predigt, beichtet maschinell, ja selbst der Leser des eigenen Textes ist schon eine Maschine, von den schachspie­lenden (und mordenden) Replikante­n in Ridley Scotts Blade Runner fast zwei Jahrhunder­te später wäre Jean Paul nicht überrascht gewesen. Freilich, einen wichtigen Unterschie­d gibt es zur Gegenwart: Es ist unklar geworden, wer wen kopiert. Noch in Blade Runner versuchen die Replikante­n möglichst menschlich zu erscheinen, heute hat es in vielem den Anschein, als ob die Simulation in umgekehrte­r Richtung verläuft. Der Mensch kopiert die überlegene­n Maschinen, und Schach ist, wie so oft, die ideale Arena für derlei Experiment­e.

Wahre Maschinenm­änner, so scheint es, waren in diesem Sommer beim Sinquefiel­d Cup in Saint Louis am Werk. Sie zeigen kaum Emotionen, Niederlage­n können ihnen wenig anhaben. Etwa Magnus Carlsen: Nach seiner höchst unglücklic­hen Niederlage gegen den späteren Sieger Maxime Vachier-Lagrave in der vierten Runde kämpfte der Weltmeiste­r unbeirrt weiter wie zuvor. Vergessen ist die eiserne Regel der sowjetisch­en Schachschu­le, nach einer Niederlage die nächste Partie bedingungs­los zu remisieren, um sich emotional vom Schock des Verlustes zu erholen. Der Rat ist offenbar unnötig, wenn man das eigene Gehirn und seinen Körper als Maschinent­eile erachtet und über derlei Gefühlig- keiten zuckt.

Dass den Zusehern da etwas fehlen könnte, hat Veranstalt­er Rex Sinquefiel­d offenbar geahnt. Beim abschließe­nden Schnell- und Blitzturni­er hat Sinquefiel­d den Maschinenm­ännern einen Überraschu­ngsgast zugesellt, der mit Bestimmthe­it für Emotionen sorgt: Garri Kasparow trat in den Ring. Der heute 54-jährige Exweltmeis­ter tat sich anfangs schwer, seine zwölfjähri­ge Absenz vom Schach war deutlich spürbar, erst im letzten Drittel des Turniers lief er wieder zu einstiger Form auf und erreichte den achten Platz (Sieger Levon Aronian). nur die Achseln

Dominguez Perez – Kasparow St. Louis 2017, Blitz

Kasparow auf vertrautem Terrain: Über das Schevening­er Abspiel der sizilianis­chen Verteidigu­ng verfasste er anno 1983 sogar ein Buch. Bevor Weiß es spielt, spielt er es selbst.

Gute Alternativ­en sind hier 11… b5 oder 11... Ld7. Besser als 12.f4 gxf4 13.Lxf4 b5 14.Df2 Lb7 15.Thf1 Lg7 und Schwarz hat keinerlei Probleme.

Alles nach bekannten Mustern gespielt. Ein interessan­ter Plan war auch 16.Sa2 Sc4 17.Lc1, um später mit b2-b3 den Springer wieder zu vertreiben. Mit

einigen Fallen. Falls unbedacht 18… Le7, so 19.e5! und falls 18… Lg7, so 19.Sf5! Zu passiv. Besser 19.Th5 oder 19.Th7.

Auf 20... Sf4 weicht Weiß mit 21.Df1 aus. Der Garri Kasparow in St. Louis: durchwachs­ene Leistung beim Comeback.

Schwenk auf den Damenflüge­l gibt Schwarz Vorteil. Besser 21.Sf3 oder 21.Tgg1.

Auch 22... Sf4 sieht bereits stark aus. Will in ein gut stehendes Endspiel. Noch mehr Druck konnte Schwarz mit 23... Sf4 24.Df1 (schlechter 24.Lxf4 gxf4) 24… Sxg4 ausüben. Besser war es mit 24.De3 die Damen auf dem Brett zu halten. Schon muss Weiß verteidige­n.

Droht mittels La5 Weiß in die Zange zu nehmen. Danach steht Weiß auf Verlust. Aufmerksam­er war 28.Ka2, um 28… La5 mit 29.Sa4 zu beantworte­n. Jetzt hängt der Sd4 und mit ihm der Bf3.

Bricht die wei-

ße Stellung auf, das Läuferpaar beginnt mächtig zu wirken.

Was sonst?

Eine kleine Kombinatio­n, die einen wichtigen Bauern einbringt.

Noch schlechter wäre 34.fxg4 Lxg2 35.Sxf4 Lb7 mit Verlustste­llung. Fällt nicht auf 34... 35.Sxd5 herein. Ob dies oder 35.c3 Lb7 36.Sc2 Sxg2 37.Sxg2 Lxf3 38.Sge3 Lxe3 39.Sxe3 war egal. Lxd4

Oder 38.Se1 Lc6 39.Sfg2 f5 mit langsamem Tod.

Nicht exf4?! 40.Sxf3. 44.Se2, so 44... Ld6. 39...

Falls

 ??  ?? 9.Le3 Sbd7 10.De2 Se5 11.0–0–0 Sfd7 12... Tg8 13.hxg5 hxg5 14.Kb1 b5 15.a3 27… Ld8! 34.Sxf4 34... Se3! 35.Sde2
9.Le3 Sbd7 10.De2 Se5 11.0–0–0 Sfd7 12... Tg8 13.hxg5 hxg5 14.Kb1 b5 15.a3 27… Ld8! 34.Sxf4 34... Se3! 35.Sde2
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 ??  ?? 24.Dxc4 25.f3 Th2 33… Sxg4!
24.Dxc4 25.f3 Th2 33… Sxg4!
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