Langsam von Loch
Anfang des 19. Jahrhunderts ließ ein schottischer Ingenieur den Kaledonischen Kanal anlegen, um den Atlantik mit der Nordsee zu verbinden. Heute schippert ein edles Passagierschiff an kleinen Inseln und am höchsten Berg des Landes vorbei.
Schiffe haben es Struan angetan. Sobald sich eines über den Meeresarm Loch Nevis dem Küstenort Inverie nähert, rennt er mit seinem Vater hinunter zum Anleger und hilft, das Boot am Pier zu vertäuen. Ein Schiff ist auch die einzige Möglichkeit, den 80-Einwohner-Ort, in dem der Elfjährige mit seinen Eltern und seiner Schwester Anna lebt, zu erreichen.
Nach Inverie auf der Halbinsel Knoydart im Nordwesten Schottlands führen weder Autostraßen noch Schienen. Struans Vater Ian Robertson diente einst bei der britischen Armee. „Ich bin viel in der Welt herumgekommen“, erzählt der 70-Jährige: „Kenia, Singapur, Zypern und Deutschland waren meine Stationen.“Danach wählte Ian die Abgeschiedenheit. 21 Jahre lang betrieb er in Inverie den entlegensten Pub des britischen Festlands, The Old Forge Inn.
Land ohne Mobilnetz
Trotz der isolierten Lage ist das Dorf eine multikulturelle Gemeinde: Holländer, Belgier, Deutsche, Polen und Neuseeländer zählen zu den Bewohnern, da sie wie Ian Robertson und seine Frau Jackie von der grünen, friedlichen Landschaft ohne Mobilfunknetz fasziniert waren. „In Inverie leben alle, weil sie wollen, nicht weil sie müssen“, meint Ian: „Einmal im Monat geht es zum Großeinkauf nach Inverness an die Ostküste. Drei bis vier Stunden von der nächstgelegenen Straße in Mallaig mit dem Auto quer durch die Highlands. Dort übernachten wir, genießen etwas Kultur und arbeiten unsere Einkaufliste ab.“
Am späten Nachmittag wird Struan der Lord of the Glens beim Anlegen helfen. Das blau-weiße Schiff im Yachtstil ist vor fünf Tagen in Inverness im Kaledonischen Kanal gestartet. Zwischen 1803 und 1822 ließ der schottische Ingenieur Thomas Telford den Kanal errichten, der die Nordsee mit dem Atlantik verbindet und Schiffen die lange Fahrt um Schottlands stürmischen Norden ersparen sollte. Nur ein Drittel des 97 Kilometer langen Kanals ist künstlich erschaffen. Er verbindet die vier Seen Dochfour, Ness, Oich und Lochy miteinander. Höhenunterschiede werden mit 29 Schleusen ausgeglichen.
Auf den Lochs kann es bei Regen und Wind durchaus hoch hergehen wie auf stürmischer See, hatte Kapitän Anthony Reading beim Begrüßungsdinner beiläufig erwähnt. Doch am nächsten Mittag fallen keine dicken Regentropfen vom Himmel, sondern Sonnenstrahlen lassen Sterne auf dem blauen, spiegelglatten Wasser tanzen. Mit sechs Knoten, also rund elf Kilometern pro Stunde, steuert Reading die Lord of the Glens über den rund 230 Meter tiefen und zweitgrößten See Schottlands: Loch Ness.
Auf der Suche nach Nessie
Auf den folgenden 37 Kilometern haben die meisten Passagiere nur eines im Sinn: Nessie zu sehen. Viele von ihnen haben auf dem vorderen Aussichtsdeck Position bezogen und suchen nun mit ihren Ferngläsern den See ab. Im Jahre 565 soll das Ungeheuer von Loch Ness das erste Mal gesichtet worden sein. Ein Jahrtausend lang blieb es dann verschwunden – oder vielmehr unerwähnt. Bis dato sollen rund 4000 Sichtungen registriert worden sein. Größtenteils von der Ruine Urquhart Castle, die sich gerade an Steuerbord gegen den blauen Horizont abzeichnet.
Die einzige Möglichkeit, tatsächlich einen Blick auf Nessie zu erhaschen, bietet schließlich der Souvenirshop in Fort Augustus. Spannender in dem verschlafenen Nest ist die sogenannte Himmelstreppe, eine Anlage mit fünf hintereinander gereihten Schleusen. Jede von ihnen hebt oder senkt das Wasser des Kanals um 2,4 Meter. Eine Stunde dauert die komplette Durchfahrt.
Während sich die knapp 50 Gäste auf den Weg ins Bordrestaurant begeben, hat die Lord of the Glens direkt hinter der Himmelsleiter festgemacht. Das 1985 in Griechenland gebaute Schiff wurde im spanischen Bilbao extra für den Kaledonischen Kanal umgerüstet. Nicht einmal 30 Kabinen verteilen sich über drei Decks, die achtzehnköpfige internationale Mannschaft gibt sich bodenständig und unkonventionell.