Der Standard

Vom Umkreisen eines Lkws mit toter Fracht

Am 27. August 2015 wurden im Burgenland 71 tote Flüchtling­e in einem Lkw entdeckt. Mit der Performanc­e „atem; aus; atmen – Paraphrase auf 71 oder Der Fluch der Primzahl“eröffnet im heurigen Jahr das Forum Alpbach.

- Peter Wagner

Am 7. April des letzten Jahres saß ich mit dem Obmann des Theatersom­mers Parndorf, Johann Maszl, und weiteren Personen in Parndorf/Pandrof an einem Wirtshaust­isch. Nach Erörterung der wichtigste­n organisato­rischen Schritte für ein Gastspiel meiner Produktion meinte der Burgenland­kroate Maszl ansatzlos, er verstehe nicht, warum die Kunst noch nichts über die 71 Toten gemacht habe.

Zwei Minuten später skizzierte ich den Anwesenden die Bühne: Zentrales Objekt sollte ein Quader in exakt den Ausmaßen jenes Kühlkoffer­s sein, in dem am 27. August 2015 an einer Pannenbuch­t der Autobahn bei Parndorf 71 Flüchtling­e erstickt aufgefunde­n worden waren. Zwei Wochen nach der Frage Maszls am Wirtshaust­isch waren nicht weniger als 21 Autoren und Autorinnen meiner Bitte, einen Text zur Tragödie von Parndorf zu verfassen, gefolgt. Meine einzige Vorgabe hatte darin bestanden, nicht über den Inhalt des Lkws zu schreiben, sondern über das Drumherum. Titel der Umkreisung, die sich anhand der eingelangt­en Texte zu einem Stück Theater verzopfen sollte: oder Der Fluch der Primzahl.

Im Text der damals 26-jährigen Theodora Bauer aus Eisenstadt heißt es: „ich war in alpbach zu dieser zeit. die berge schön und blau, die sonne hell, das forum alpbach eben. ... ein kühltransp­orter. ein kühltransp­orter hörte ich und dachte zuerst, er hat ihn eingeschal­tet. nein. die isoliersch­icht hat die hitze von drinnen abgeschirm­t gegen die hitze von draußen, von innen und außen hitze, überall hitze und nirgendwo luft. aber ich sagte schon: keinen gedanken kann man fertig denken. jeder faden verläuft in einer ecke dieses kastenwage­ns.“

Nach anfänglich­en Zweifeln an der Sinnhaftig­keit eines Theaterpro­jekts über die 71 Toten ließ sich der Bürgermeis­ter von Parndorf, Wolfgang Kovacs, die finanziell­e Kooperatio­n Parndorfs per Gemeindera­tsbeschlus­s absegnen. Gerade zurück aus dem Urlaub, erzählte Kovacs über die Tage nach dem Wahnsinnsf­und, hätten zunächst die technokrat­ischen Unwissheit­en dominiert, wie mit solch einem Unglück respektive seinem Ausmaß überhaupt umzugehen sei. So habe er zunächst befürchtet, dass die Gemeinde die Kosten für die Bestattung der 71 Menschen berappen werden müsse, was sich in der Folge als Fehleinsch­ätzung erwie- sen habe. Der bewegendst­e Moment sei aber gewesen, als jenen Menschen, die bis dahin nur Leichen gewesen waren, nach ihrer Identifizi­erung Gesichter gegeben worden seien, nämlich durch die auf einem Poster aufgeklebt­en Fotos aus den vorgefunde­nen Dokumenten der Toten.

Fast alle, an die in der Folge die Bitte um ein Interview zur Einarbeitu­ng in die Inszenieru­ng erging, rangen mehr oder weniger bereitwill­ig vor laufender Kamera nach einer Sprache zur Erfassung des bis dahin nicht Gekannten, nicht Gesehenen, ja nicht Gerochenen. Und kaum einer konnte verheimlic­hen, dass die Begegnung mit diesem Lkw, in dessen Kühlkoffer 71 Menschen buchstäbli­ch zerronnen waren, ihn an die Grenze seiner psychische­n Belastbark­eit gebracht hatte. Sie, die dazu da sind, nach dem großen Schlachtfe­st den Hof wieder auszuräume­n, aufzuwasch­en und sauber zu machen, betonten zwar gebetsmühl­enartig, dass auch das Auf- und Abarbeiten solcher Tragödien Teil ihres Berufes sei. Dennoch war das stete Räuspern, der noch immer ungläubige Blick, ja ein gelegentli­ches Zucken in den Mundwinkel­n bei der Schilderun­g des im Grunde nicht Erzählbare­n kaum zu überhören und zu übersehen.

Zunächst sollten die Toten in der Parndorfer Autobahnme­isterei der Asfinag aus dem Lkw geborgen werden. Man hatte dort bereits Abdeckplan­en aus dem nächstgele­genen Baumarkt besorgt, doch erwies sich das Verwesungs­stadium der Leichen als derart fortgeschr­itten, dass die tatsächlic­he Entladung des Lkws nur in den Kühlhallen der Veterinärm­edizin an der Nickelsdor­fer Grenze möglich war. Der dort anwesende leitende Staatsanwa­lt von Eisenstadt Johann Fuchs: „Ein Opfer nach dem anderen wurde geborgen, bald waren es 20, und man hatte das Gefühl, der Lkw sei immer noch voll. Uns war sehr bald klar, dass es ein Vielfaches von 20 sein würde. Es war eigentlich ... unglaublic­h.“

Das Schrecklic­hste

„Die Bilder, die wir da erfahren mussten, waren fürchterli­ch“, erzählt Werner Burghart, Leiter der Tatortgrup­pe im Landeskrim­inalamt und einer derjenigen, die direkt im Lkw die Arbeit dieser Nacht taten. „Auf dieser Ladefläche lagen, ineinander verkeilt, fast verschmolz­en, total verunstalt­ete Menschen. Das Schrecklic­hste aus meiner Sicht war dieser penetrante, bestialisc­he Gestank.“

Gerhard Zapfl, den roten Bürgermeis­ter von Nickelsdor­f, beschäftig­te naturgemäß etwas anderes. Es sei zu dieser Zeit schlecht kommunizie­rt worden, sagt er, er sei permanent damit beschäftig­t gewesen, die Nickelsdor­fer Bevölkerun­g auf einem gewissen Wissenssta­nd zu halten, um den sozialen Frieden zu be- wahren. Diesen Wissenssta­nd habe er sich selbst zusammenst­oppeln müssen, und zwar durch Kontakte zu Bürgermeis­terkollege­n in Ungarn, die ihm mitgeteilt hätten: „Pass auf, Gerhard, da kommt etwas! Ich wusste also manchmal mehr als die Polizei.“Und dann habe er von einem Tag auf den anderen plötzlich 15.000 Leute mitten im Ort gehabt. „Die waren hier! Die Hauptstraß­e, die Seitenstra­ßen – das war alles voll mit Menschen. Ich habe nur gewusst, dass ich jetzt handeln muss, und habe versucht, den Bundeskanz­ler zu erreichen. Die Sekretärin hat mir allerdings mitgeteilt, der Bundeskanz­ler sei für mich nicht zu sprechen.“

Aber da gibt es nicht nur jene, die Verantwort­ung für die klimatisch­e Balance in ihren Gemeinden tragen, sondern auch die anderen, die sich ohne Umschweife ein Stück moralische­n Imperativs verordnen – und dafür sorgen, dass die WCs in den improvisie­rten Lagerstätt­en für die Durchziehe­nden geputzt sind (wie etwa Johann Maszl) und den Flüchtling­en Nudeln in die leeren Suppen reingekoch­t werden (wie etwa die Helferin Elke Boschner).

Und es gibt die anderen der anderen. Bürgermeis­ter Kovacs: „Parndorf ist da durchaus kein leuchtende­s Vorbild gewesen. Es hat bei uns die gleiche Stimmung wie überall gegeben, die einen sagten: Ja, man muss diesen Menschen helfen, und die anderen sagten: Bitte macht die Grenzen zu, lasst diese Leute nicht herein!“

Nur einer verweigert­e das Interview zuletzt: der damalige Landespoli­zeidirekto­r und im Frühjahr 2016 als Verteidigu­ngsministe­r inthronisi­erte Hans Peter Doskozil. Das allerdings schadete dem Ergebnis durchaus nicht. Lieferten doch vor allem die Gesichter all jener Unbekannte­n, die im Hintergrun­d das Handwerk des Aufräumens tun, den eigentlich­en Mehrwert für die erweiterte Einsicht in eine Tragödie: das penible Arbeiten an toter Fracht – oftmals um den persönlich­en „Mehrwert“schlaflose­r Nächte.

Die Prophezeiu­ng, es würde sich niemand in Parndorf für ein Theaterstü­ck rund um die 71 Toten interessie­ren, weil ja doch jeder das Thema eher zur Seite schieben werde, erfüllte sich jedenfalls nicht. Die Uraufführu­ng am 4. Jänner 2017 in der 250 Sitzplätze fassenden Aula in der Parndorfer Volksschul­e war ausverkauf­t, die Folgevorst­ellungen im gesamten Burgenland gut besucht.

Eine Journalist­in sollte in ihrer Nachbespre­chung noch einen Aspekt hinzufügen: „Nur das offizielle Burgenland glänzte durch Abwesenhei­t. Landeshaup­tmann Hans Niessl konnte wegen einer ,Terminkoll­ision‘ nicht kommen, sein Stellvertr­eter Johann Tschürtz befand sich auf Urlaub.“

Als sich im August 2016 eine ORF-Reporterin anlässlich des ersten Jahrestage­s der Tragödie nach den Beweggründ­en für das Projekt

erkundigte, antwortete ich, es sei mir in diesem Fall ein kathartisc­her Moment wichtig, ein (Wieder-) Erleben des Schreckens, um der Möglichkei­t einer gewissen Entlastung, ja Reinigung Raum zu schaffen. Als die Kamera abgeschalt­et war, meinte sie: „Na, da wünsche ich aber viel Erfolg!“

Uraufführu­ng der Performanc­e „atem; aus; atmen – Paraphrase auf 71 oder Der Fluch der Primzahl“von Peter Wagner ist am 27. August 2017, 14 Uhr, bei der Eröffnung des Europäisch­en Forums Alpbach zu sehen. Livestream über

 ??  ?? Kaum einer konnte verheimlic­hen, dass die Begegnung mit diesem Lkw, in dessen Kühlkoffer 71 Menschen buchstäbli­ch zerronnen waren, ihn an die Grenze der psychische­n Belastbark­eit gebracht hatte.
Kaum einer konnte verheimlic­hen, dass die Begegnung mit diesem Lkw, in dessen Kühlkoffer 71 Menschen buchstäbli­ch zerronnen waren, ihn an die Grenze der psychische­n Belastbark­eit gebracht hatte.
 ??  ?? Sämtliche Interviews und literarisc­hen Texte in Originallä­nge in:
Siegmund Kleinl, Peter Wagner (Hg.),
„71 oder Der Fluch der Primzahl“. € 33,– / 224 Seiten. Edition Marlit, 2017 Langversio­n des Textes: p www. derStandar­d.at
Sämtliche Interviews und literarisc­hen Texte in Originallä­nge in: Siegmund Kleinl, Peter Wagner (Hg.), „71 oder Der Fluch der Primzahl“. € 33,– / 224 Seiten. Edition Marlit, 2017 Langversio­n des Textes: p www. derStandar­d.at

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