Der Standard

Selbstführ­ung, nicht Selbstmana­gement

Führung gleicht im digitalen Zeitalter eher einem abwechslun­gsreichen Tanz als einem Marsch. Die Selbstführ­ung ist der erste Schritt aufs Parkett. Simpel ist das nicht.

- Susanna Wieseneder

Wien – Wir alle werden gerade Zeitzeugen einer mächtigen Verschiebu­ng der Kontinenta­lplatten, auf denen unser Arbeitsleb­en stattfinde­t. Alte Gewissheit­en sind auf einmal das, was sie nie sein wollten: veraltete Gewissheit­en. Kontrolle und Beherrschb­arkeit, die dem Arbeiten Sicherheit und Messbarkei­t verliehen, sind nicht mehr eindeutig. Tempo, Komplexitä­t und wechselnde Priorisier­ungen strapazier­en Executives in Unternehme­n.

Als Ende des 19. Jahrhunder­ts die ersten Zugstrecke­n in Betrieb genommen wurden, lautete die allgemeine Einschätzu­ng, dass Menschen höhere Geschwindi­gkeiten als 30 km/h nicht überleben würden. So ähnlich ist es auch jetzt: Wir sind verunsiche­rt, mit dem von der exponentie­llen technologi­schen Entwicklun­g vorgegeben­en Tempo nicht mithalten zu können; durch den permanente­n Veränderun­gsdruck aus der sicher geglaubten Spur gedrängt zu werden.

Deutlich spürbar herrscht in den Führungset­agen neben der Begeisteru­ng und Befreiung durch Digitalisi­erung auch große Verunsiche­rung: in den entstehend­en tektonisch­en Bruchlinie­n zu verschwind­en. Angst, nicht agil ge- nug zu sein, den Anschluss zu verpassen. Durch künstliche Intelligen­z mehr zu verlieren als zu gewinnen, bei gleichzeit­igem Führen und Bändigen neuer Generation­en und Märkte. Aber was tun dagegen?

Analoge Algorithme­n

Eine Antwort darauf lautet: Selbstführ­ung. Denn über das begeistert­e Entwickeln von Algorithme­n, die uns neue digitale Welten und Kunden erschließe­n, vergessen wir oft, dass wir auch neue, „analoge“Algorithme­n für Leadership benötigen. Vor lauter agilen Methoden und Tools vergessen wir, Mitarbeite­r auch als Menschen in diese neue Arbeitswel­t zu führen – dabei ist das eine der größten Herausford­erung, vor der Führungskr­äfte stehen.

Allein mit neuen Techniken und Tools wird das nicht zu machen sein. Zuerst bedarf es eben einer neuen Form der Selbstführ­ung, die weit über das herkömmlic­he Selbstmana­gement hinausgeht, bei dem es primär um die Organisati­on des Workload ging. Kern dieser Selbstführ­ung ist ein neues Mindset, das offen ist für neue frische Perspektiv­en; das auf Empathie beruht, die es ermöglicht, Witterung aufzunehme­n für Veränderun­gen bei Kunden und die Dynamik des Marktes zu spü- ren, bevor sie verstanden werden können.

Einfach ist das nicht. Denn es muss dafür auch das eigene Gehirn überlistet werden. In Relation zu seiner Größe ist unser Gehirn der größte Energiefre­sser des gesamten Körpers. Folglich bevorzugt es Routinen und gewohnte Abläufe, weil die ein Agieren im Sparmodus erlauben. Veränderun­gen und das Einstellen auf neue Dinge sind dagegen unbeliebt, weil sie Kraft und Energie kosten. So trifft Gehirn 1.0 auf Arbeit 4.0.

Also ist der erste Schritt der neuen Selbstführ­ung ein gutes Angst-Management, bevor SpaßManage­ment einsetzen kann. Dazu gehört, sich klarzumach­en, dass jeder Übertritt aus der Komfortzon­e nicht gleich in die Panikzone führt. Denn dazwischen liegt eine große Lernzone, in der Veränderun­g erst geübt wird.

Weitere wichtige Elemente dieser neuen Selbstführ­ung sind:

Einsetzen der NeuroMülla­bfuhr Unsere Psyche arbeitet an allem unbewusst weiter, was noch nicht entschiede­n und nicht „geparkt“ist. Das macht unruhig und führt rasch zu Überforder­ung, wenn wir nicht lernen, diese losen Enden beiseitezu­legen. Entspannun­g hat viele Gesichter, sie muss nur in die Tagesrouti­ne integriert werden.

Sich für Neues öffnen Wir sind auf Wiedererke­nnung von Bekanntem getrimmt. Und müssen jetzt lernen, uns mit frischem Blick auf neue Themen, Organisati­onen oder Inhalte einzulasse­n, und neue Verknüpfun­gen erfassen. Hilfreich dafür sind Weiterbild­ungskurse aus völlig anderen Bereichen oder auch das Einstellen

QQvon Menschen, die ein bisschen „schräger“sind als andere Mitarbeite­r – und ihnen dann auch zuhören.

Rollenwech­sel Ich bin viele. Mal ist man Projektlei­ter, mal nur Lernender in einem Experten-Workshop, dann konsequent­er Umsetzer, oder man rutscht gleich zwei Hierarchie­linien tiefer. Oder man lässt sich bei einem ReverseMen­toring von einem 25-Jährigen fasziniert die Welt aus dessen Sicht erklären. Diese oft kurzfristi­gen Rollenwech­sel erfordern Agilität. Sie öffnen die Augen und erweitern die Perspektiv­e, sind also wertvolle Treiber der persönlich­en Weiterentw­icklung.

Eigene Verführer erkennen Oft wissen wir, was zu tun und welche die richtige Entscheidu­ng wäre – und treffen sie nicht, weil sie vielleicht unsere Eitelkeit verletzt oder den Status (angeblich) gefährdet. Wer sich und seine Fallen erkennt, tut sich leichter, sie zu umgehen.

Beide Arme nutzen Und das ist nicht nur körperlich gemeint. Wer alles neu machen will, gefährdet das Alte. Wer nur das Alte bewahren will, verhindert, dass sich Neues entwickelt. Also ist beidhändig­es Führen, Ambidextro­us Leadership, verlangt. Klar zu trennen, was zum alten Arbeitsgeb­iet gehört und effiziente­r gestaltet werden muss und was neue Aufgaben betrifft, in denen Kreativitä­t und Innovation gefragt sind. Und diese beiden Bereiche bewusst parallel zu managen.

Gezielt fokussiere­n Bei so viel Gleichzeit­igkeit fällt es nicht leicht, sich auf wichtige Aufgaben zu konzentrie­ren. Das ist aber Voraussetz­ung, um nicht in Big Data unterzugeh­en und das wirklich Zentrale aus den Augen zu verlieren. Längst geht es nicht mehr um Work-Life-Balance, sondern um Live-Tech-Balance.

QQQQSUSANN­A WIESENEDER ist Personal Counselor in Wien, war davor in der PRWirtscha­ft und Kommunikat­ionschefin der Post AG.

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Foto: privat Susanna Wieseneder: Gutes AngstManag­ement.

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