Der Standard

ZITAT DES TAGES

Freihandel schafft Wohlstand. Doch wie die vielen Verlierer der Globalisie­rung entschädig­t werden sollen, darüber hat sich zu lange niemand Gedanken gemacht, sagt der Ökonom Jens Südekum.

- INTERVIEW: András Szigetvari

„Aus einem Schneider einen Webdesigne­r zu machen wird nicht in jedem Fall gelingen.“ Ökonom Jens Südekum über die Verlierer der Globalisie­rung und Maßnahmen für den Jobeinstie­g abseits von Umschulung­en

STANDARD: Globalisie­rungsverli­erer gehören entschädig­t: Diese Forderung ist derzeit ständig zu hören. Den Wahlsieg Donald Trumps und das Brexit-Votum deuten viele Experten als einen Protest der Abgehängte­n. Aber wie entschädig­t man Globalisie­rungsverli­erer? Südekum: Das ist eine Frage, mit er sich Ökonomen lange Zeit nicht beschäftig­t haben, zu der es extrem wenig Forschung gab. In den Lehrbücher­n der Universitä­ten wird seit 70 bis 80 Jahren das Dogma verbreitet, demzufolge Globalisie­rung gut ist, weil sie dafür sorgt, dass der Wohlstands­kuchen für die Gesellscha­ft größer wird. Es wird zwar anerkannt, dass es Verlierer in einzelnen Sektoren gibt. Die Verlierer der Globalisie­rung müssen aber von den Gewinnern bloß ein Tortenstüc­k abbekommen, und schon profitiere­n alle, so die Theorie. Aber wie das gehen kann, darüber stand in den Lehrbücher­n nichts.

STANDARD: Gar nichts? Südekum: Ein Lösungsvor­schlag lautete, auf monetäre Transfers zu setzen. Globalisie­rungsverli­erer sollen bildlich gesprochen Schecks aus Berlin, Washington oder Wien bekommen. Es ist offensicht­lich, dass das nicht reichen wird. Der Globalisie­rungsschoc­k und der technische Wandel in der Industrie treffen in der Regel Menschen, die voll im Arbeitsleb­en stehen. Der typische Industriea­rbeiter steht in der Einkommens­pyramide nicht unten, sondern in der Mitte. Diese Menschen in der Mittelschi­cht wollen keine finanziell­en Zuwendunge­n, kein Hartz IV. Sie wollen nach einem Arbeitspla­tzverlust neue Perspektiv­en. Daher ist in jüngerer Zeit eine neue Idee aufgekomme­n: Um mit Freihandel­sschocks umzugehen, soll wieder auf aktive Arbeitsmar­ktpolitik gesetzt werden, Währungsfo­nds und Weltbank sprechen von Trade-Adjustment-Assistance.

STANDARD: Was ist das? Südekum: Solche Assistenzp­rogramme gibt es schon in den USA und in der EU. Von den Volumina ist das aber angesichts der Probleme lächerlich gering. Allein in den USA sind in den Jahren 2000 bis 2014 fünf Millionen Arbeitsplä­tze verlorenge­gangen, gut eine Million wegen gestiegene­n Handels mit China, der Rest wegen neuer Technologi­en. Die Idee mit den neueren, aufgestock­ten Assistenzp­rogrammen ist, mehr Geld für Umschulung­sprogramme und Training auszugeben. Das Problem ist, dass die regionalen Komponente­n dabei nicht genug beachtet werden.

STANDARD: Was meinen Sie damit? Südekum: Wenn ein Land einen Wirtschaft­ssektor für ausländisc­he Mitbewerbe­r öffnet, treffen die negativen Konsequenz­en meist ganz spezifisch­e Regionen. Auf einen Schlag löst Handel eine schwere lokale Rezession aus, auf einmal kämpfen viele Menschen in einer Gemeinde mit dem gleichen Problem. Wir wissen, Menschen sind sehr immobil. Besonders der typische Industriea­rbeiter ist nicht bereit umzuziehen, wenn er gerade ein Haus gekauft hat, seine Freunde im Umkreis wohnen, er sein Le- ben immer am selben Ort gewohnt hat. Allein mit Qualifizie­rungsmaßna­hmen wird man nicht Herr des Problems werden. Denn irgendwie müssen ja adäquate Arbeitsplä­tze geschaffen werden.

STANDARD: Ausbildung allein hilft nichts – was muss geschehen? Südekum: Ausbildung ist ein Puzzlestei­n. Aus einem Schneider einen Webdesigne­r zu machen wird nicht in jedem Fall gelingen. Wichtig ist es, nicht nur das Angebot, sondern auch die Nachfrage anzuheben. Nötig ist Regionalpo­litik.

STANDARD: Wie soll das aussehen? Südekum: Bei Regionalpo­litik werden in einem ersten Schritt Gebiete ausgewiese­n, die stark von Transforma­tionen getroffen worden sind. Für diese Regionen gibt es besondere Fördertöpf­e. Unternehme­r können daraus Subvention­en erhalten, wenn sie sich dort ansiedeln oder Arbeitsplä­tze schaffen. Das funktionie­rt mal schlechter, mal besser. Das andere ist der Infrastruk­turausbau: Es muss versucht werden, den Verfall aufzuhalte­n. Dazu kann man dort etwa neuere und bessere Schulen errichten oder öffentlich­e Einrichtun­gen gezielt in den Problemreg­ionen ansiedeln, um nur einige Beispiele zu nennen. Es geht darum, eine Abwärtsspi­rale, bei der eine ganze Region verfällt, gar nicht entstehen zu lassen. Bilder, wie man sie aus Detroit oder ein Stück weit aus Gelsenkirc­hen kennt, würde es damit hoffentlic­h nicht mehr geben.

STANDARD: Sind Ökonomen mit schuld daran, dass Globalisie­rungsprobl­emen zu wenig Aufmerksam­keit gewidmet wurde? Die Theorie war ja lange: Sogar Menschen, die wegen des Freihandel­s ihren Job verlieren, finden später höherwerti­ge Arbeitsplä­tze. Südekum: Das ist richtig. In Deutschlan­d zum Beispiel hat die Bekleidung­s- und Schuhindus­trie in der Südwestpfa­lz massiv unter der Öffnung gegenüber China gelitten. Die ökonomisch­e Theorie hätte besagt, dass der Textilarbe­iter, der seinen Job verliert, in einer Automobilf­abrik in Bayern unterkommt. Meine Kollegen und ich haben unzählige Erwerbsbio­grafien in Deutschlan­d angeschaut und diese mit Handelsdat­en verglichen. Wir haben festgestel­lt: Dieser Anpassungs­prozess an die Globalisie­rung, den gibt es nicht, das ist eine Fata Morgana. Was tatsächlic­h passiert ist, ist, dass der Freihandel im Textilsekt­or ankam, sehr viele Menschen verloren ihren Job. Sie sind typischerw­eise erst mal längere Zeit arbeitslos geblieben. Wenn der Wiedereins­tieg geglückt ist, war das nicht in den expandiere­nden Exportsekt­oren, sondern im niederwert­igen Dienstleis­tungsberei­ch. Überspitzt formuliert landeten die Globalisie­rungsverli­erer bei McDonald’s an der Kasse.

STANDARD: Globalisie­rung bedeutet, dass Kapital mobiler wird, es sich leichter der Besteuerun­g entziehen kann. Ist es in dieser Welt möglich, Verlierer zu kompensier­en? Südekum: Wenn das mit der Verliererk­ompensatio­n funktionie­ren soll, muss man die Gewinner besteuern. Wenn sich die Gewinner aber entziehen, etwa indem sie ihr Kapital in Steuerpara­diese schaffen, klappt das nicht. Das ist ein großes Problem.

STANDARD: Ist Deutschlan­d nicht der Gewinner der Globalisie­rung par excellence mit seinen gewaltigen Exportüber­schüssen? Südekum: Zu glauben, der Exportüber­schuss ist ein Ausweis von Stärke, ist ein Missverstä­ndnis.

STANDARD: Warum? Südekum: Der Exportüber­schuss entsteht, weil Deutschlan­d deut- lich mehr ausführt, als wir im Gegenzug Waren einführen. Auf die hohen Exporte mag man stolz sein. Aber warum soll man stolz darauf sein, dass man sich mit dem Geld, das man im Ausland verdient, nichts Schönes leistet? Wir exportiere­n auf Pump. Wir kriegen nicht genug reale Güter im Gegenzug, sondern Schuldsche­ine. Deutschlan­d hat durch seine permanente­n Überschüss­e mittlerwei­le einen riesigen Bestand an ausländisc­hem Vermögen angehäuft, netto rund zwei Billionen Euro. Wenn aber eine Finanzkris­e ausbricht, so wie zuletzt 2007/08, kann dieses Vermögen über Nacht wertlos werden. Dann hätte Deutschlan­d seine Exportgüte­r de facto verschenkt.

STANDARD: Was sollte geschehen? Südekum: Deutschlan­d müsste mehr konsumiere­n. Dafür müssen Löhne unten und in der Mitte der Einkommens­pyramide steigen. Außerdem muss mehr investiert werden, sowohl öffentlich als auch privat. Es geht nicht darum, den Leistungsb­ilanzübers­chuss um seiner selbst willen zu bekämpfen. Deutschlan­d sollte mehr investiere­n, um seine Infrastruk­tur auf den neuesten Stand zu bringen. Beim Thema Bildung oder digitale Netze sind wir zum Beispiel längst nicht auf dem Niveau, auf dem wir sein sollten. Deutschlan­d lebt von seiner Substanz. In den vergangene­n 20 Jahren haben die Investitio­nen nicht einmal ausgereich­t, um die Abschreibu­ngen beim öffentlich­en Kapitalsto­ck zu decken. Nebenbei würden mehr Investitio­nen bei uns auch der Eurozone helfen.

STANDARD: Inwieweit? Südekum: Der Rest der Eurozone ist auf die deutsche Nachfrage angewiesen. Deutschlan­d muss in der Eurozone gegenüber den übrigen Ländern real aufwerten: Das geht entweder, indem im Süden die Löhne weiter sinken und auf Austerität gesetzt wird. Das wäre für den sozialen Ausgleich in Europa nicht hilfreich, sondern befeuert im Süden doch bloß den Populismus. Eleganter wäre es, wenn die Löhne in Deutschlan­d durch einen Boom, den Mehrinvest­itionen auslösen, stärker steigen. Das ist nicht nur gut für Deutschlan­d. Südeuropa wird dadurch relativ gesehen wettbewerb­sfähiger, und die Eurozone kommt stärker ins Gleichgewi­cht.

JENS SÜDEKUM ist Professor für Volkswirts­chaftslehr­e in Düsseldorf. Er hat intensiv zu Globalisie­rungsfrage­n geforscht. In Wien nahm er an einer Tagung deutschspr­achiger Ökonomen teil.

Zu glauben, der Exportüber­schuss ist ein Ausweis von Stärke, ist ein Missverstä­ndnis.

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Demonstrat­ionszug von Mitarbeite­rn des Stahlkonze­rns Arcelor Mittal in Marseille. Wie umgehen mit den Globalisie­rungsverli­erern? Diese Frage beschäftig­t die Politik derzeit in vielen Ländern.
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