Der Standard

Schlussstr­ich ausgeschlo­ssen

- Gerald Schubert

Mit der Forderung an Deutschlan­d, Reparation­szahlungen für Schäden im Zweiten Weltkrieg zu tätigen, eröffnet Polen gerade ein weiteres Kapitel in der vertrackte­n Geschichte europäisch­er Vergangenh­eitsbewält­igung. Die Fragen, die sich an der Schnittste­lle zwischen historisch­en Altlasten und aktueller Politik stellen, sind dabei stets die gleichen: Kann man Unrecht gegen Unrecht aufwiegen? Wie lassen sich erlittene Schäden beziffern? Wie kann man jahrzehnte­alte Eigentumsa­nsprüche im Dickicht internatio­naler Vertragswe­rke nachvollzi­ehen?

Auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende ist es nicht angebracht, solche Debatten einfach vom Tisch zu wischen. Eine „Schlussstr­ich“-Rhetorik, die vorgaukeln soll, man könne mit der Vergangenh­eit ein für alle Mal abschließe­n, gilt es zu vermeiden. Die Debatte in Polen ist auch gar nicht neu. Bereits 2004, im Jahr des EU-Beitritts, hat der Sejm von Deutschlan­d die Begleichun­g von Weltkriegs­schäden gefordert – was wiederum als Reaktion auf Entschädig­ungsforder­ungen deutscher Vertrieben­er galt.

Der verstorben­e tschechisc­he Intellektu­elle Jiří Gruša, einst Direktor der Diplomatis­chen Akademie in Wien, hat gern „weniger Schlusspun­kte und mehr Doppelpunk­te“in der Diplomatie gefordert. Soll heißen: Man kann immer weiterrede­n. Derzeit aber deutet nichts darauf hin, dass der polnische Vorstoß mehr ist als ein Rufzeichen, das vom Streit mit der EU über die eigene Rechtsstaa­tlichkeit ablenken soll.

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