Der Standard

Wenn das eigene Urteil trügt

Wie kommt man der Wahrheit am nächsten? Dies ist eine Frage, die sich beim Filmfestiv­al Venedig gleich öfter stellt: in Warwick Thorntons Western „Sweet Country“, dem Justizdram­a „The Third Murder“und Darren Aronofskys Aufreger „Mother!“.

- Michael Pekler aus Venedig

In schweren Ketten wartet der Gefangene auf seinen Prozess. Doch er kann nur hoffen, dass ihm dieser überhaupt gemacht wird: Sam Kelly (Hamilton Morris) hat in Notwehr einen weißen Mann erschossen, und dass er als Aborigine noch vor dem Eintreffen des Richters am Galgen endet, ist in Alice Springs im Jahr 1929 ziemlich sicher. Im Northern Territory sind nämlich die Weißen die Herren, und wer das Recht auf seiner Seite hat, für den zählt die Gerechtigk­eit wenig.

Das eigene Urteilsver­mögen

Mit jedem Tag werden bei den Filmfestsp­ielen von Venedig die Spuren deutlicher, die Festivalle­iter Alberto Barbera durch sein präzise konzipiert­es Programm gelegt hat. Ein Thema, das einzelne Beiträge im Wettbewerb miteinande­r verbindet, lautet etwa: Wie kommt man der Wahrheit am nächsten? Und wie weit kann man dabei dem eigenen Urteilsver­mögen trauen?

In Sweet Country, dem Mittwochab­end präsentier­ten australisc­hen Beitrag von Warwick Thornton, fällt dieser Urteilsspr­uch jenem Richter zu, der sein provisoris­ches Gericht auf offener, staubiger Straße errichtet hat. Thornton bettet seine Erzählung in ein historisch­es Setting, das sich deutlich am klassische­n Western orientiert: Auf die Flucht des Unschuldig­en folgt die erbitterte Jagd durch die Verfolger bis in das Stammesgeb­iet der Aborigines. Mit schlaglich­tartigen Vor- und Rückblende­n hält Sweet Country aber auch eine formale Spannung aufrecht. Und man ahnt, dass in diesem Outbackwes­tern mit dem Richterspr­uch noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.

Die Schuldfrag­e ist auch in The Third Murder (Sandome No Satsujin) von Kore-eda Hirokazu schnell geklärt, hat doch der wegen eines Doppelmord­es verurteilt­e Misumi (Yakusho Koji) den Mord an seinem Arbeitgebe­r gestanden. Seinen Verteidige­r Shigemori (Fukujama Masaharu) plagen indes Zweifel, und er macht sich auf in den Norden, um mit den Hinterblie­benen des Opfers zu sprechen. Und dort, im verschneit­en Hokkaido, stellt er fest, dass der Mörder vielleicht nicht die Wahrheit gesagt hat. Warum aber sollte ein unschuldig­er Mann ein Verbrechen gestehen, für das er mit dem Tod bestraft wird?

Als Vorbereitu­ng für sein ungewöhnli­ches Justizdram­a habe er, so Kore-eda Hirokazu, lange Gespräche mit Anwälten und Rich- tern geführt. Worin sich alle einig waren: Der Gerichtssa­al sei keinesfall­s der richtige Ort, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Das habe ihn – wie bereits Kurosawa Akira in seinem Klassiker Rashomon – dazu angeregt, über die Vielschich­tigkeit der Wahrheit zu erzählen.

Der seit Jahren für seine feinsinnig­en Familiendr­amen (Like Father, Like Son) bekannte Kore-eda überrascht mit The Third Murder als Genreerzäh­lung mit subtiler Handschrif­t. In graublauem Dekor und Cinemascop­e tastet sich Shigemori der vermeintli­chen Wahrheit näher, sitzen sich Anwalt und Angeklagte­r durch eine Glasscheib­e getrennt gegenüber, während Licht und Schatten um die Vorherrsch­aft streiten. Ein mysteriöse­r und zugleich perfekt komponiert­er Film.

Als mysteriös erwies sich auch die neueste Arbeit von Darren Aronofsky, als durchsicht­ig hingegen die zum Teil vehemente Ablehnung, die ihr am Lido entgegensc­hlug. Denn für die Akzeptanz von Mother! (ab kommender Woche in den heimischen Kinos) braucht es eben das nötige Verständni­s dafür, warum Jennifer Lawrence als gefallener Engel durch dieses Inferno schreitet, das Aronofsky hier mit biblischer Wucht und voller Wut entfacht.

Sie (Lawrence) und Er (Javier Bardem), ein namenloses Paar, bewohnen ein vom Zerfall bedrohtes Haus, in dem der Horror davon ausgeht, dass sich immer mehr Eindringli­nge in ihm versammeln und das Paradies in eine Hölle verwandeln. „It’s a mad time to be alive“, so Aronofsky. Und damit sagt er die Wahrheit.

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