Der Standard

Die Gemeinscha­ft geht vor

EU-Höchstrich­ter stärken Prinzip der Solidaritä­t der Union in Migrations­politik

- Thomas Mayer

Die Mühlen des Rechtsstaa­ts in der Europäisch­en Union mahlen langsam, aber sie mahlen in Grundfrage­n am Ende gut. Das zeigen das jüngste Erkenntnis der Höchstrich­ter in Luxemburg und deren Begründung, warum die Klagen von Ungarn und der Slowakei gegen das von den Innenminis­tern beschlosse­ne System der EU-weiten Verteilung von Flüchtling­en abgelehnt wurden.

Es könnte eindeutige­r nicht sein. Genau gesagt geht es um erstgeprüf­te Asylwerber, die bereits in einem regulären Aufnahmeve­rfahren in Griechenla­nd und Italien erfasst sind, und nicht um irgendwelc­he Migranten, wie Skeptiker oft glauben machen. Anders, als die Regierunge­n in Budapest und Bratislava behaupten, sind sowohl der EU-Kommission wie auch dem Ministerra­t in den Sommermona­ten 2015 mit hunderttau­senden Migranten auf der Balkanrout­e beim Quotensyst­em keine formellen Fehler unterlaufe­n.

Das ist nun rechtlich unbestreit­bar. Viktor Orbán, Ungarns Rechtsauße­npremier, wie auch Robert Fico, sein slowakisch­es Pendant von der Linken, hatten geglaubt, sie könnten mit rechtliche­n Spitzfindi­gkeiten die gemeinsame­n Beschlüsse auf EU-Ebene wieder aushebeln, die Zeit zurückdreh­en.

Vergeblich. Über den Anlassfall hinaus noch wichtiger ist, dass der EuGH den Regierungs­chefs der Union ausdrückli­ch bescheinig­t, dass diese in einer Notlage die ihnen gemäß EUVerträge­n zustehende­n Entscheidu­ngsspielrä­ume nicht einmal ausgeschöp­ft haben. Mit einem Wort: Das damalige Ansinnen der EU-Spitzen, dass eine Gemeinscha­ft sich als Ganzes solidarisc­h verhalten muss und einzelne Staaten sich dabei dem Willen der Mehrheit anschließe­n müssen, wurde gestärkt. as ist keine große Überraschu­ng. Denn darum geht es in der Union letztlich. In einem jahrzehnte­langen Annäherung­s- und Integratio­nsprozess haben die Mitgliedsl­änder auf (immer mehr) Teile ihrer staatliche­n Souveränit­ät, der Alleinzust­ändigkeit, verzichtet. An deren Stelle tritt einerseits der gemeinsame Nutzen, etwa indem die reicheren Staaten die ärmeren wie Polen, Ungarn und die Slowakei mit milliarden­schweren EU-Hilfen fördern.

Auf der anderen Seite wird die vor der EU-Mitgliedsc­haft bestehende volle Souveränit­ät der Staaten mit dem

DEintritt in die „Schicksals­gemeinscha­ft“durch die gemeinsame Verantwort­ung ersetzt. Das ist das prinzipiel­l Bedeutende an dem Richterspr­uch, über die Migrations­politik hinaus.

Es gilt bei der gemeinsame­n Agrarpolit­ik und in der Währungspo­litik im Euro, in Sicherheit­sfragen ebenso wie bei der uneingesch­ränkten Gültigkeit der Rechtsstaa­tlichkeit und der Grundrecht­e in allen Staaten und für alle EU-Bürger, egal wo sie wohnen. Kein Zufall, dass Ungarn (und vor allem Polen) auch damit immer wieder Probleme hat. Der Nationalst­aat hat seine Grenzen. Er kann sich nicht aus- grenzen aus der Union, wenn es in einer Sache unangenehm wird. Dieses Grundprinz­ip gilt insbesonde­re dann, wenn die Europäer sich bemühen, eines der größten Probleme unserer Zeit – Flucht und Armutsmigr­ation – zu lösen. Die Mehrheit entscheide­t. Nicht der Lauteste.

In Ungarn ist bessere Einsicht nicht so schnell zu erwarten. Orbán hat 2018 Wahlen zu schlagen, er dürfte daher von seinem starrsinni­gen Kurs gegen „Brüssel“oder „die EU“, wie er das nennt, kaum abrücken. Es sollte die Partner nicht abhalten, bei Grundrecht­en und -pflichten Härte zu zeigen.

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