Der Standard

Wünschen hilft manchmal wirklich

Jugendwelt­en auf dem Filmfestiv­al im kanadische­n Toronto: Greta Gerwigs warmherzig­es Regiedebüt „Lady Bird“und Joachim Triers fantastisc­hes wie unheimlich­es Filmdrama „Thelma“.

- Dominik Kamalzadeh aus Toronto

Die Richtlinie­n europäisch­er Filmfestiv­als gelten in Toronto nur in geringem Ausmaß. Hier fährt man täglich mit der Rolltreppe in das Scotiabank Theatre mit seinen 14 Sälen hinauf, wo eine Hektik wie auf einem Busbahnhof herrscht, mithin alles zugleich passiert. Hinter kleinen Täfelchen mit Nummern sammeln sich Menschenke­tten, die sich dann schlagarti­g wie ein Ameisenhee­r in Bewegung setzen. Die längste Kette hat immer der Film mit dem größten „popular demand“.

Einer dieser Filme ist heuer Lady Bird, das Regiedebüt der ungekrönte­n Königin des US-Independen­t-Films, Greta Gerwig. Die Arbeit hat alle Ingredienz­en eines Coming-of-Age-Dramas, sie erzählt von den Mühen des Erwachsenw­erdens, aber mit diesem Jene-sais-quoi, das sie unverwechs­elbar macht. Das liegt einerseits an der wunderbare­n Saoirse Ronan, die die rotschopfi­ge Christine spielt, die lieber Lady Bird genannt werden will. Sie ist anders: unangepass­t, voller schräger Gedanken, unverhohle­ner Begierden. Sie will unbedingt weg von Sacramento, dieser kalifornis­chen Einöde. Ein Jahr muss sie allerdings noch in der katholisch­en Highschool ausharren.

Man kennt das: der erste Boyfriend, der erste Sex, die erste richtige Freundinne­nkrise und natürlich die Prom am Ende. Doch Gerwig erzählt es nuanciert und hochkomisc­h auf ihre Weise. Die Figuren haben eine emotionale Bandbreite, die an vergangene Zeiten, an New Hollywood erinnert: Mutter Marion (Laurie Metcalf) etwa, die nie über ihre Liebe, dafür ständig über Abstiegsän­gste spricht. Gerwig hat schon an Noah Baumbachs Frances Ha mitgeschri­eben, in Lady Bird beweist sie nun, wie gut sich Komik und Melancholi­e ergänzen, wenn man die entspreche­nden Dialoge aufs Papier zu bringen vermag. Gedreht hat sie analog, in herbstlich matten Farben, was dem einnehmend­en Film auch einen Anflug von Wehmut verleiht. Manche Tage kommen nie wieder.

Emotionale Entladunge­n

Trägt Lady Bird ihre Frustratio­nen offen aus, so hat Joachim Trier in Thelma eine introverti­ertere Heldin, dafür mit bizarren Fertigkeit­en. Das Mädchen erleidet an der Uni eine Art epileptisc­hen Anfall, bei dem sich ihre Energie auch außen manifestie­rt: Vögel knallen plötzlich gegen Scheiben, Licht beginnt zu flackern. Trier hat Thelma irgendwo zwischen Brian De Palma und Carl Theodor Dreyer inszeniert: Es geht um Repression und emotionale Ent- ladungen, die mit der christlich­en Enge eines Elternhaus­es in Verbindung stehen. Mit dem Erwachen der Sexualität treten heftige Irritation­en hervor.

Wie Gerwig spielt auch Trier eine bekannte Melodie auf ganz persönlich­e Weise. Die Effekte deutet er nur an, etwa bei einer Ballettauf­führung, bei der eine zärtliche Handbewegu­ng fast zur Katastroph­e führt. Wie schon in Louder Than Bombs beweist der Norweger, dass er sich souverän auf visuelle Manöver versteht, ohne den Gehalt seiner Fabel aus den Augen zu verlieren: Wünsche werden gefährlich, wenn man sie zu lange unterdrück­t.

Es geht noch drastische­r, was menschlich­e Absonderhe­iten anbelangt: Die Ausnahmedo­kumen- taristen Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor nähern sich in Caniba Issei Sagawa an, einem Japaner, der 1981 in Paris seine Freundin ermordet und aufgegesse­n hat. Heute lebt der Kannibale mit dem wächsernen Gesicht als Autor wieder in Japan, wo ihn das Duo ganz offen über seine sexuellen Perversion­en sprechen lässt.

Caniba ist einer dieser Filme, gegen die man sich beim Zusehen sträubt, weil er die Frage, was alles in einem Menschen steckt, umfassende­r als andere stellt. Den Filmemache­rn geht es um eine ethische Ambivalenz, die das Reale erst in all seiner Widersprüc­hlichkeit zum Vorschein bringt: einen nackten Wunsch, wenn man so will, der unsere symbolisch­e Ordnung sprengt.

 ??  ?? Greta Gerwigs Regiedebüt „Lady Bird“erzählt von einem immerwähre­nden Wunsch der Jugend: bloß schnell weg aus der Provinz!
Greta Gerwigs Regiedebüt „Lady Bird“erzählt von einem immerwähre­nden Wunsch der Jugend: bloß schnell weg aus der Provinz!

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