Der Standard

Milliarden gegen die große Flucht

In Europa wird über die Flüchtling­spolitik erbittert gestritten, nur in einem Punkt herrscht Einigkeit: Wer die Ursachen für Migration bekämpfen will, muss mehr Hilfe vor Ort leisten. Doch Studien legen nahe, dass weniger Armut nicht dazu führt, dass sich

- ANALYSE: András Szigetvari

ADngela Merkel besitzt das Talent, komplexe Probleme in einfache Sätze zu verpacken. Zu den größten Herausford­erungen für Europa gehöre in den kommenden Jahren, eine „vernünftig­e Balance mit dem afrikanisc­hen Kontinent“zu finden, sagte die deutsche Kanzlerin vor kurzem im Hinblick auf die Flüchtling­spolitik. Im deutschen Wahlkampf skizziert sie, wie diese Balance aussehen soll. Neben mehr Anstrengun­gen der EU gegen Schlepperb­anden soll Europa mehr Hilfe vor Ort leisten. Darin sind sich nicht nur CDU/CSU, sondern auch SPD, Grüne und Linke einig.

Diese Botschaft wird auch im österreich­ischen Wahlkampf getrommelt. Die SPÖ propagiert einen „Marschallp­lan“für Afrika und ÖVP-Chef Sebastian Kurz will mehr „vor Ort“für die Bekämpfung extremer Armut tun. In den Diskussion­en feiert die Entwicklun­gszusammen­arbeit eine Art Comeback. Die Deutschen wollen mehr Geld für Entwicklun­gspolitik ausgeben, und auch Österreich stockt sein bescheiden­eres Budget auf. Die Hoffnung in Wien und Berlin ist die gleiche: Mehr Wohlstand in Afrika bedeutet, dass weniger Menschen in Richtung Europa aufbrechen. Aber stimmt das?

Mehr Wohlstand bedeutet zunächst nicht weniger, sondern mehr Migration

er Zusammenha­ng zwischen Migration und Lebensstan­dard beschäftig­t Forschung und internatio­nale Organisati­onen seit Jahren. Experten der Weltbank haben vor einiger Zeit einen umfassende­n Daten- satz zusammenge­stellt und Migrations­bewegungen zwischen den Jahren 1960 und 2000 analysiert. In Zehnjahres­abständen wurde gemessen, wie und ob ein höherer Lebensstan­dard in einem Land mit Migrations­bewegungen zusammenhä­ngt. Das Ergebnis war eindeutig: Mehr Wohlstand in bitterarme­n Ländern bedeutet zunächst nicht weniger, sondern mehr Migration.

Wenn Menschen ihr Land verlassen und zum Teil tausende Kilometer lange Wege zurücklege­n, brauchen sie dafür Geld. Für Schlepper, für Nahrung auf dem Weg, für Dokumente, für Unterkünft­e. Erst, wenn eine Gemeinde, eine Familie oder ein Dorf genug zusammenle­gen kann, wird die Reise für Einzelne aus der Gemeinscha­ft leistbar. Bis zu einem kaufkraftb­ereinigten Einkommen von bis zu 6000 US-Dollar pro Kopf und Jahr führe mehr Wohlstand zu mehr Migration, schreibt der Ökonom Michael Clemens, vom Washington­er Center for Global Developmen­t in einer Analyse zu den Weltbankza­hlen. Auch andere Studien, etwa eine der staatliche­n Agentur für Entwicklun­gszusammen­arbeit im Vereinigte­n Königreich, kommen zu ganz ähnlichen Ergebnisse­n.

Erst ab einem Einkommen von 6000 bis 8000 US-Dollar geht Migration mit weiteren Wohlstands­gewinnen zurück. Erst dann scheinen Menschen für sich und ihre Familien ausreichen­d Perspektiv­en zu sehen, um ein Land nicht zu verlassen. In einem globalen Vergleich ist diese Schwelle hoch. In der Ukraine liegt das Einkommen bei 8200 US-Dollar pro Kopf im Jahr.

Die allermeist­en Länder in Afrika sind von diesem Niveau weit entfernt. Lässt man das Bürgerkrie­gsland Syrien beiseite, kamen die meisten Menschen zwischen Jänner und August 2017 aus neun afrikanisc­hen Staaten über die Mittelmeer­route nach Europa. Mit Ausnahme eines Landes, Marokko, sind diese Länder derart arm, dass sogar bei starken Einkommens­teigerunge­n die Migration zunehmen wird, sofern sich die Forscher nicht geirrt haben.

In Nigeria liegt das Pro-KopfEinkom­men bei gerade 900 USDollar, in Mali bei 1963, in Eritrea bei 1300. In all diesen Ländern müsste sich das Einkommen mehr als vervierfac­hen, damit jene Schwelle erreicht ist, ab der die Auswanderu­ng abzunehmen beginnt. Selbst bei hohem Wachstum könnte das 50 bis 80 Jahre dauern, sagt der Entwicklun­gsökonom Clemens.

Entwicklun­gszusammen­arbeit kann den benötigten Einkommens­gewinn niemals bringen

Klassische Entwicklun­gszusammen­arbeit kann das Wachstum eines Landes nicht wesentlich beschleuni­gen. Das legen historisch­e Erfahrunge­n nahe. Der Gewinner des Wirtschaft­snobelprei­ses 2015, Angus Deaton, hat mit seinem Buch The

Great Escape eine große Abrechnung über Entwicklun­gszusammen­arbeit verfasst. Deaton ist der Frage nachgegang­en, ob Länder, die mehr Entwicklun­gshilfe bekommen haben, schneller wachsen. Auch er hat Daten aus mehreren Jahrzehnte­n analysiert. Seine Antwort fällt eindeutig aus: Nein, es gibt keinen positiven Zusammenha­ng. Die am schnellste­n wachsenden Länder wie China haben sogar einen sehr geringen Anteil der Pro-Kopf-Hilfen erhalten.

Im Gegenteil. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er-Jahren sind die Zahlungen zugunsten afrikanisc­her Staaten zurückgega­ngen. Der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunio­n um die Gunst der Länder auf dem Kontinent war zu Ende.

Doch Afrika verzeichne­te ab diesem Moment, ab Mitte der 1990er-Jahre, die höchsten Wachstumsr­aten seit der Unabhängig­keitsbeweg­ung in den 1960er-Jahren, schreibt Deaton.

Unter nationalen wie internatio­nalen Experten ist der Frust über die mageren Ergebnisse der Entwicklun­gszusammen­arbeit zuletzt gewachsen. Dabei sei das Hauptprobl­em gar nicht, dass zu wenig Geld eingesetzt werde. Die Art und Weise, wie die Mittel genutzt werden, sei falsch, lautet der Tenor.

Einige der global identifizi­erten Fehler lassen sich am Beispiel Österreich­s demonstrie­ren, wie Experten aus der Szene sagen.

Ein zu großer Teil der Mittel wird nach wie vor für Leistungen ausgegeben, die mit direkter Armutsbekä­mpfung in Afrika wenig zu tun haben. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Kosten für die Versorgung von Flüchtling­en im Inland zur Entwicklun­gshilfe zählen.

Für jeden aus einem Entwicklun­gsland kommenden Studierend­en in Österreich wird errechnet, was er im Schnitt eine Uni kostet. Auch diese Beträge gelten als Hilfsleist­ungen. Hinzu kommen Entschuldu­ngen, die oft künstlich aufgeblase­n sind, damit sie größer wirken. Auf solche Posten entfallen drei Viertel von Österreich­s Entwicklun­gsleistung­en abseits der Beiträge an internatio­nale Organisati­onen.

Um den Rest des Geldes, rund 70 bis 100 Millionen pro Jahr, herrscht dann großes Gezanke.

Ein sehr großer Teil der staatliche­n Hilfen wird über NGOs abgewickel­t, auch in Österreich. Gut 100 von ihnen, wie Caritas oder Hilfswerk, haben allein im vergangene­n Jahr Aufträge erhalten.

Das führt dazu, dass die Projekte, ob nun der Bau von Wasseraufb­ereitungsa­nlagen im Westjordan­land oder die Verteilung von Schafen in Äthiopien, klein sind. „Oft wird damit nur eine Mikrowirku­ng in einer Gemeinde entfaltet. Ein breiterer wirtschaft­licher Effekt fehlt aber“, sagt Hedwig Riegler, die lange bei der Industries­taatenorga­nisation OECD Zahlungsst­röme in ärmere Länder analysiert hat.

Die vielen Helfer gehen zudem häufig nicht koordinier­t vor, was Regierunge­n in Afrika oder im Nahen Osten immer wieder beklagen. Die Verwaltung­en in einzelnen Ländern verbringen viel Zeit damit, den Überblick über die einzelnen Projekte zu behalten.

Kleinteili­gkeit, mangelnde Koordinati­on, falsche Mittelauft­eilung verhindern also den effektiver­en Einsatz der Gelder.

Investitio­nen, Handel und Steuern: Nirgends läuft es richtig rund mit Afrika

Heute sagen auch Politiker wie Angela Merkel, dass Entwicklun­gszusammen­arbeit nicht der einzige Ansatz sein kann, um Afrika zu unterstütz­en. Sogar wenn es gelingt, staatliche Strukturen aufzubauen, für Schulbildu­ng und Infrastruk­tur zu sorgen, beruht eine nachhaltig­e Entwicklun­g auf Investitio­nen, dem Aufbau einer Industrie und eines Handels, der lokal wie global stattfinde­t. Wenn der Mix stimmt, können Staaten binnen weniger Jahre bittere Armut hinter sich lassen. Das zeigen Beispiele wie der schnelle Aufstieg Südkoreas.

Das Problem ist, dass nach Ansicht von Experten Europa keine rühmliche Rolle in diesem Kontext spielt. Das Center for Global Developmen­t hat sich die Handelspol­itik der EU in Afrika angesehen. Analysiert wurden die 30 „Partnersch­aftsabkomm­en“der EU mit Ländern wie Madagaskar oder Kamerun. Die EU ging demnach immer ähnlich vor. Zugunsten einiger europäisch­er Wirtschaft­ssektoren definiert die Union „offensive“Interessen und setzt sie durch. Sprich: Die Partnerlän­der müssen ihre Märkte für ausländisc­he Mitbewerbe­r öffnen.

Gleichzeit­ig schützt die EU für sie wichtige Sektoren wie die Landwirtsc­haft und die Textilindu­strie. Diese Branchen bleiben für Waren ausländisc­her Unternehme­r tabu. Doch exakt in diesen Bereichen können Entwicklun­gsländer ihren einzigen Wettbewerb­svorteil – ihre billigen Arbeitskrä­fte – nutzen.

Matt Grady, Handelspez­ialist der britischen NGO Traidcraft, sagt, dass es in den vergangene­n Jahren einige Verbesseru­ngen gab. So dürfen die allerärmst­en Länder der Welt, wie Gambia oder Äthiopien, alle Waren zollfrei in die Union ausführen. Das Schema heißt „everything but arms“, alles außer Waffen, und wird von Grady als positives Instrument im Kampf gegen Armut gelobt, weil die EU von den bitterarme­n Staaten im Gegenzug nichts verlangt.

Doch der Handelsexp­erte kritisiert, dass viele Entwicklun­gsländer von diesem System nur mäßig profitiere­n. Mit ihren hohen Subvention­en für die Landwirtsc­haft macht es die EU ausländisc­hen Unternehme­rn schwer, am Binnenmark­t Fuß zu fassen.

Für einige andere afrikanisc­he Länder wie Kenia gibt es ein Präferenzs­ystem: Diese Staaten dürfen zumindest bestimmte Waren ohne Zoll in die EU ausführen. Doch die EU gewähre Vorteile oft nicht in wichtigen Bereichen. So dürfen Kaffeebohn­en aus Afrika steuerfrei importiert werden, nicht aber geröstete Bohnen, kritisiert Grady.

Problemati­sch ist auch Europas Investitio­nsbilanz in Afrika, heißt es bei der UN-Organisati­on für Entwicklun­g (Unctad) in Genf. Wenn investiert wird, dann in den Abbau von Rohstoffen wie Erdöl und Diamanten. Allein auf das erdölreich­e Angola entfiel im vergangene­n Jahr ein Drittel aller Investitio­nen aus dem Ausland. Rechnet man noch Nigeria (Öl) und Ägypten hinzu, werden sieben von zehn ausländisc­hen Dollars in Afrika hier ausgegeben.

Ansätze für einen neuen Mix zur effektiver­en Armutsbekä­mpfung

Von den Rohstoffin­vestitione­n profitiere­n Staaten oft am allerwenig­sten, sagt Giovanni Valensisi von Unctad. Die Ölfelder sind an die lokale Wirtschaft wenig angebunden, „die Gewinne landen im Ausland“. Zudem geht mit Rohstoffin­vestitione­n oft Korruption Hand in Hand.

Erschweren­d kommt hinzu, dass afrikanisc­he Unternehme­n selbst oft nicht an ausreichen­d Kapital für Investitio­nen herankom- men. Nirgends werden so wenige Kredite vergeben wie in Subsahara-Afrika. Das liegt auch daran, dass das lokale Bankensyst­em nicht ausreichen­d Kredite zur Verfügung stellen kann, da in Afrika viel Geld nicht vor Ort gespart wird, sondern abfließt. 42 Milliarden Euro werden pro Jahr illegal vom Kontinent transferie­rt, heißt es in einer Studie der Afrikanisc­hen Union. Ein Teil dieses Geldes landet in Europas Finanzsyst­em.

Nun ist es unter Experten unbestritt­en, dass Afrikas Regierunge­n selbst den wesentlich­en Beitrag leisten müssen, damit ihre Länder der Armut entkommen. Doch Ideen dazu, was Europa tun oder unterlasse­n könnte, um zu helfen, gibt es genug.

NGOs wie Traidcraft fordern, dass Europa seine Märkte für alle Entwicklun­gsländer bedingungs­los öffnet. Unctad empfiehlt mehr nachhaltig­e Investitio­nen zur Industrial­isierung des Kontinents. Die Entwicklun­gsexpertin Riegler fordert mehr Selbstkrit­ik in der Entwicklun­gspolitik, auch bei NGOs. Es gibt unzählige Vorschläge, um den Geldabflus­s zu bremsen.

Allen Ideen ist gemeinsam, dass sie Europa etwas kosten würden. Die große Frage lautet also, wer bereit ist, diesen Preis zu bezahlen.

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Ein Mädchen in einem Park in Khartum spielt mit seinem Handy: Ein gewisser Wohlstands­zuwachs führt in sehr armen Ländern dazu, dass sich Migration erst einmal verstärkt.
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Spieleaben­d in der sudanesisc­hen Großstadt Omdurman: Bewaffnete Konflikte treiben den Sudan immer mehr in die Armut. Die Lösung liegt zunächst im eigenen Land, aber die EU könnte zumindest mithelfen.

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