Nach Hurrikan Irma: „Die Reichen haben Strom“
In der Stadt Naples im US-Bundesstaat Florida war nicht die Wucht des Sturms für die Zerstörung verantwortlich, sondern die Bauweise der Häuser. Die Aufräumarbeiten laufen schleppend an.
REPORTAGE: Nach fünf Tagen ohne Strom findet Chelsea Jones, dass sie ihrem Ärger schon einmal freien Lauf lassen kann. Im Kühlschrank vergammeln die Lebensmittel. Das faulige Wasser aus der Leitung müsste abgekocht werden, um es trinken zu können, solange die Klärwerke ausgefallen sind. Doch kochen kann sie nichts, weil ein Elektroherd ohne Elektrizität nun einmal nicht funktioniert. Die brütende Hitze in der Wohnung ist kaum noch auszuhalten. Im Freien schlafen geht auch nicht, sie würde von Moskitos zerstochen. Am schlimmsten aber ist, dass Quinn leidet, ihr 17 Monate alter Sohn.
Chronisch krank, braucht er Medikamente und Spezialnahrung, was wiederum beides gekühlt werden muss. Chelsea Jones (34) verheiratet mit Brandon, dem Verkäufer eines Supermarkts, sehnt den Moment herbei, in dem endlich einer dieser weißen Lastwagen mit Teleskopleiter die Rattlesnake Hammock Road herauffährt und die Einfahrt zum Golf View Manor, ihrer Siedlung, nimmt. Ein Fahrzeug von FPL, Florida Power & Light, des größten Energiekonzerns des Bundesstaats. Eine Weile lief noch das Notstromaggregat, nun aber ist das Benzin aufgebraucht. Um Benzin zu bekommen an einer der wenigen Tankstellen, die schon wieder offen sind, muss man sich für Stunden in eine Warteschlange einreihen, sechs Stunden lang, sagen die Nachbarn. An der Rattlesnake Hammock Road liegen umgeknickte Strommasten, Masten aus Holz. Warum sich bislang niemand von FPL blicken ließ, wenigstens, um den Schaden zu inspizieren, warum nichts geschah in den fünf Tagen, seit der Hurrikan Irma über die Stadt Naples hinwegfegte, Chelsea Jones glaubt die Gründe zu kennen: „Die reichen Viertel haben Strom, die Reichen kommen wie immer als Erste dran. Wir dagegen sind einfach Luft.“
Verwüstung im Trailerpark
Golf View Manor, hinter dem klingenden Namen verbergen sich vier schäbige Mietshäuser, jedes zwei Stockwerke hoch. Deren Bewohner schwitzen am Donnerstag in Flip-Flops am Straßenrand, um auf einen Konvoi zu warten, Geländewagen, Motorräder mit blinkenden Warnleuchten als Eskorte. Donald Trump ist nach Naples gekommen, um sich als Katastrophenmanager zu inszenieren. Auf der anderen Seite der Rattlesnake Hammock Road, in einem Trailerpark namens Naples Estates, verteilt er Sandwiches, Bananen und tröstende Worte. Irma, sagt er, den Superlativ bemühend, wie es oft seine Art ist, sei der Windstärke nach der heftigste Wirbelsturm von allen gewesen.
Für die Karibikinsel Sint Maarten / Saint Martin mag das stimmen, aber gewiss nicht für Naples. Egal, in Naples ist Trump wirklich zu Leuten gefahren, die der Hurrikan am härtesten getroffen hat. Nicht ins Stadtzentrum, wo die Böen zwischen Edelitalienern und Sushi-Restaurants Palmwedel auf die Bürgersteige geschleudert und hie und da eine Scheibe eingedrückt haben. Kaum ein Gebäude dort ist ernsthaft beschädigt, während die Baracken der Naples Estates an die Trümmerwüste nach einem Flugzeugabsturz denken lassen. Nicht die Wucht des Sturms war das Problem, sondern die Bauweise der Häuser.
An der Buttonwood Lane, bei Ted Leach, geht der Blick von der angeschimmelten Couch im Wohnzimmer durch ein drei Meter breites Loch im Dach in den Himmel. Leach, ein Pfarrer aus Ohio, wohnt jetzt bei seinem Sohn. Des Sohnes und seiner Familie wegen ist er mit Caroline, seiner Frau, im Januar überhaupt erst nach Naples gezogen. Caroline leidet an Krebs, nach acht Monaten Chemotherapie wollte sie näher bei ihren Enkeln sein.
15.000 Dollar hat das Ehepaar für seine vier Wände bezahlt, de facto ein Wohnwagen, dem die Räder fehlen. Irgendwann sollen Experten anrücken, um den Schaden zu schätzen. Vielleicht überweist die Katastrophenschutzbehörde Fema irgendwann einen Scheck. Ted Leach erwartet nicht viel, er poltert nicht, er ist die personifizierte Geduld. Würde ihm die Fema eine Plastikplane spendieren, damit er das Loch im Dach abdecken kann, wäre er für den Anfang schon froh. Das Einzige, was er bisher erhielt, ist ein Zettel: Es sei ungefährlich, das Haus zu betreten, jedoch nicht empfehlenswert, dort zu leben. „Wären wir mal lieber in Ohio geblieben“, sagt Leach. „Ich würde sofort wegziehen“, sagt Chelsea Jones, „aber das können wir uns nicht leisten.“
Schimpfwort „Klimawandel“
Chelsea Jones und Ted Leach verbindet bei allen Kontrasten eine ausgeprägte Abneigung, über das Phänomen Klimawandel zu sprechen. „Climate Change“, an der Golfküste Floridas klingt es fast wie ein Schimpfwort. Dabei hat Conservancy of Southwest Florida, eine in Naples ansässige Gesellschaft, die sich gegen die fortschreitende Nutzung des Marschlands durch Bauunternehmer wendet, erst vor wenigen Monaten gemeinsam mit der kalifornischen Universität Santa Cruz einen Atlas der Flutschäden-Risiken erstellt.
Heraus kam, dass es aus staatlicher Sicht sinnvoll wäre, Hauseigentümern an den Küsten Anreize zum Verkauf zu bieten, mit dem Ziel, deren Immobilien später abzureißen. Zwischen 1978 und 2011 hätten 15.000 Hauseigentümer in Florida nach Sturmfluten rund vierzigtausend Schadensfälle geltend gemacht. Auch deshalb stecke das National Flood Insurance Program, eine staatliche Versicherung, die pro Wohnung bis zu 350.000 Dollar auszahlt, mit 23 Milliarden Dollar (19 Milliarden Euro) in den roten Zahlen. Ein vom Fiskus geförderter Rückbau im Küstenstreifen käme unterm Strich billiger, rechneten die Verfasser der Studie vor.