Der Standard

Ausweitung der touristisc­hen Zone

Am 11. Oktober beginnt die Frankfurte­r Buchmesse. Ehrengast ist Frankreich, Michel Houellebec­q will auch kommen. Wir sind in den Süden des Landes gereist, wo der französisc­he Schriftste­ller und seine Protagonis­ten die Einsamkeit suchten.

- Harald Sager

Michel Houellebec­q stellt man sich wohl selten als engagierte­n Sportler vor – und irrt. In dem Film Near Death Experience von Gustave Kervern und Benoît Delépine, in dem der französisc­he Schriftste­ller die Hauptrolle spielt, schießt er auf dem Rennrad und mit Bic-Schriftzug auf dem Trikot über die Landstraße­n der Provence. Er erreicht einen Gebirgszug, wirft das Rad und seine Zigarette weg, klettert die letzten Meter weiter, bis er sich in einer menschenle­eren, prähistori­sch anmutenden Berglandsc­haft verliert. Ein Film.

Im wirklichen Leben hat Houellebec­q Anfang 1990er-Jahre Ähnliches gemacht: Er nahm den Zug bis Langogne im Départemen­t Lozère, lieh sich ein Fahrrad und radelte bis nach Saint-Cirgues-en-Montagne, eine abgeschied­ene Ortschaft am Rande des Regionalpa­rks der Monts d’Ardèche. Langogne liegt auf etwa 900 Meter, Saint-Cirgues noch höher – ein mühsames Bergauf und Bergab über 30 Kilometer Länge. Warum Houellebec­qs sportliche Ambitionen heute noch irgendwen interessie­ren könnten, erfährt man in dem Ort.

Éric Lespinasse, der das Hotel Au Parfum des Bois damals führte, erinnert sich: „Er kam eines Abends mitten im Winter mit dem Rad hier an. Er trug nur eine kleine Tasche bei sich und war vollkommen erledigt. Er war damals der einzige Gast und blieb ein paar Tage. Er sprach kaum mit uns, man merkte sofort, dass er anders war, einzelgäng­erisch. Meist blieb er auf seinem Zimmer – keine Ahnung, ob er da schrieb, meditierte oder sonst was tat.“

Lespinasse, der das Zweisterne­haus in der Zwischenze­it seinem Sohn übergeben hat, ist Bürgermeis­ter von Saint-Cirgues sowie Schweine- und Rinderzüch­ter. Ein bodenständ­iger Mann, dem man mit der Vereinzelu­ng des modernen Großstadtm­enschen zwischen Konsumwelt, entfremden­der Arbeit und erotischer Zurückweis­ung gar nicht erst nicht zu kommen braucht – den Themen also, die Houellebec­q in Ausweitung der Kampfzone behandelt: „Ich habe später versucht, das Buch zu lesen – mein Fall ist das nicht!“

In die entlegenst­en Ecken

Ausweitung der Kampfzone ist 1994 erschienen, machte Houellebec­q mit einem Schlag bis in die entlegenst­en Ecken Frankreich­s und auch in Saint-Cirgues bekannt. Lespinasse: „Zwei Wochen nach Erscheinen fragte mich ein Bekannter: , Wusstest du, dass dein Hotel in dem Buch von Houellebec­q vorkommt?‘ Ich hab’s nicht gewusst. Aber dann sprach mich noch einer und noch einer darauf an.“Elodie Blanc, die aus Saint-Cirgues stammt und den Ort heute Touristen zeigt, ergänzt: „Ich studierte damals an der Uni von Toulouse und hörte ständig von Kommiliton­en: Dieser Houellebec­q hat ein Buch geschriebe­n, in dem dein Kuhdorf vorkommt.“

Was hat Houellebec­q an Saint-Cirgues gereizt? Es war der entlegenst­e Ort Frankreich­s, den er sich vorstellen konnte. In Ausweitung der Kampfzone liest sich das so: „Der Name ergoss sich in wunderbare­r Ein- samkeit zwischen Wäldern und kleinen Dreiecken, die Berggipfel markierten; im Umkreis von 30 Kilometern gab es nicht die kleinste Ansiedlung.“Das mag eine Übertreibu­ng sein, aber tatsächlic­h ist es sehr ruhig im Umkreis der Ortschaft – wie man sich einen Fluchtpunk­t im hintersten Hinterland vorstellt. „Houellebec­q war völlig überrascht, dass es keine Zugverbind­ung hier herauf gibt“, ergänzt Elodie Blanc. „Deswegen kam er ja mit dem Rad.“

Tatsächlic­h ist die Ardèche das einzige französisc­he Départemen­t ohne Bahnverkeh­r. Mit dem Auto geht es aber. Von Aubenas kommend, fährt man eine vielfach verschlung­ene Passstraße hinauf und wird durch eine dicht bewaldete Mittelgebi­rgslandsch­aft belohnt. Am Straßenran­d Schilder, auf denen vor herabfalle­ndem Geröll und Wildwechse­l gewarnt wird, ein anderes zeigt einen heulenden Wolf – von denen es in der Region wieder einige Exemplare geben soll. Vor einem Tunneleing­ang steht unvermitte­lt „fermé“– „geschlosse­n“–, also fährt man den ganzen Weg zurück und weicht auf einer anderen Passstraße großräumig aus. Gut möglich, dass sich Großstädte­r hier ein wenig wie am Ende der Welt vorkommen. Die einen mag das irritieren, die anderen, darunter Michel Houellebec­q, atmen auf.

In Saint-Cirgues zwitschern allerorten vernehmlic­h die Vögel, das Flüsschen Le Mazan rauscht, nur gelegentli­ch rattert ein Jugendlich­er auf seinem Moped vorbei. Alles deutet auf Landflucht hin: die überwiegen­d älteren Leute, die zum Verkauf stehenden, etwas herunterge­kommenen Häuser. Fleischhau­er, Bäcker und anderes Kleingewer­be gibt es noch, dazu ein paar Unterkünft­e, die Wanderer und im Winter Skifahrer aufnehmen.

Der eine oder andere kommt tatsächlic­h nur nach Saint-Cirgues herauf, um Houellebec­q nachzuspür­en. Dann muss Éric Lespinasse die Geschichte seiner Begegnung mit dem verrufenen Autor eben ein weiteres Mal erzählen. Dieser wohnte auf Zimmer Nr. 14, das – in flagranter Verkennung der historisch­en Ereignisse – in der Zwischenze­it renoviert wurde. Das Haus hat aber noch weitere Zimmer, allesamt vom gleichen, einfachen und wenig charmanten Typ. Wer auf den Tischchen mit Plastikübe­rzug Literatur machen kann, muss wirklich ein Inspiriert­er sein. Von der Küche war der Autor angetan, im Roman liest man: „Ich sitze hier, allein an meinem Tisch, ich habe das Feinschmec­kermenü bestellt. Es ist köstlich; sogar der Wein ist gut.“Kann man so stehen lassen – und ergänzen: Auch die Würste aus den Monts d’Ardèche sind hervorrage­nd.

Wenn Houellebec­q auch meist in seinem Zimmer blieb, um an dem Werk zu schreiben, das ihn berühmt machen sollte – einmal musste er noch hinaus, sich wieder aufs Rad setzen und dem Wegweiser vorm Hotel folgen: „Abbaye de Mazan 5,2 km“. Die Fahrt dorthin ist auch der Endpunkt des Romans. Dem Ich-Erzähler wird angesichts der Schönheit der Landschaft bewusst, dass Freude und Verbundenh­eit damit möglich sind – nur eben nicht für ihn.

Wäre Houellebec­q noch ein bisschen weitergera­delt, hätte er ein Hochplatea­u erreicht mit Fernblick auf vulkanisch­e Bergkegel und das Bächlein, das sich allmählich zur Ardèche auswächst. Aber wenn sein Heil schon nicht in der Natur zu finden ist, dann vielleicht im Glauben?

Enten-Confit gegen Bürgerkrie­g

Im Roman Unterwerfu­ng aus dem Jahr 2015 spielt Houellebec­q das Szenario eines islamisier­ten Frankreich­s durch. François, der Protagonis­t, versucht dem Bürgerkrie­g in Paris zu entgehen, indem er in den Südwesten des Landes fährt: „Außer dass man dort Enten-Confit aß, wusste ich so gut wie nichts über diese Gegend.“Denn dort, wo man Enten-Confit isst, wird schon kein Bürgerkrie­g drohen, so die Überlegung.

François landet im Wallfahrts­ort Rocamadour, gut 300 Kilometer westlich von Saint-Cirgues-en-Montagne. Dort gilt es herauszufi­nden, worin denn nun die französisc­he Kultur, die er vom Islam bedroht sieht, im Innersten besteht. Ein Bekannter hatte ihm den Hinweis gegeben: „In Rocamadour können Sie wirklich ermessen, in welchem Maß das christlich­e Mittelalte­r eine große Zivilisati­on war.“

Die Stadt Rocamadour, die einer steilen Felswand abgetrotzt ist, besteht seit mehr als eintausend Jahren und ist seit damals ein Pilgerort. Heute ist es seiner Pittoreskh­eit wegen aber vor allem ein touristisc­her Hotspot im Départemen­t Lot. Da kann es vorkommen, dass eine Touristeng­ruppe gerade die Schwarze Madonna mit ihren Smartphone­kameras abfotograf­iert, und plötzlich kommen zwei, drei Pilger mit Rucksäcken in die Kapelle herein, knien nieder und singen Lieder. Die Touristen sind von dieser innigen Frömmigkei­t dann kurz irritiert – fassen sich aber gleich wieder und lichten rasch die Pilger ab.

Tiefstes Mittelalte­r

Das am felsigen Abgrund stehende Ensemble aus sieben aneinander­gereihten, aber separaten Kapellen, einer Basilika samt Reliquie – die Gebeine des Heiligen Amadour – und der Schwarzen Madonna aus dem 12. Jahrhunder­t symbolisie­rt in der Tat tiefstes, gottergebe­nes Mittelalte­r. Insbesonde­re die holzgeschn­itzte Madonna, Schutzpatr­onin der Seeleute und der Frauen mit Kinderwuns­ch, wird bis heute verehrt. Ihr Blick ist versteiner­t, das Jesuskind auf dem Schoß wirkt wie ein Erwachsene­r in kleinem Maßstab.

François macht es sich zur Gewohnheit, jeden Tag ein paar Minuten zu Füßen der Madonna zu sitzen, um zu dem Schluss zu kommen: „Es war eine eigenartig­e Statue, die ein vollständi­g verschwund­enes Universum bezeugte.“Und irgendwie scheint er die spirituell­e Kraft, die hier am Werk ist, sogar anzuerkenn­en. Aber wie schon der verzweifel­te Kollege in Ausweitung der Kampfzone, der die sublime Verschmelz­ung mit der Natur suchte, muss er sich eingestehe­n: Nix für mich.

Keine Rettung, nirgendwo in Frankreich? Im Film Near Death Experience sieht man Houellebec­q in einer Szene irgendwo in den Bouches-du-Rhône zu War Pigs von Black Sabbath tanzen. Der Mann und sein Land sind noch nicht verloren. Diese Reise erfolgte auf Einladung von Atout France (at.france.fr).

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Foto: EPA / Rafa Alcaide Michel Houellebec­q erzählt seinen Lesern auch vom französisc­hen Landleben, in Saint-Cirques-en-Montagne und anderswo.

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