Der Standard

Der Herbst, Nazi-Nebel und Kunst über Graz

Es gibt einen Zusammenha­ng zwischen in signifikan­ter Stärke aufblühend­em Kunstschaf­fen und den ebenfalls in signifikan­ter Stärke lebendigen Resten von Nazismus. Ein Auszug der am Festakt für den 50. Steirische­n Herbst gehaltenen Rede.

- Georg Friedrich Haas

Vor mehr als 40 Jahren war zum ersten Mal eine Kompositio­n von mir im Steirische­n Herbst aufgeführt worden. Es war ein missglückt­es Werk. Am nächsten Abend ging ich mit einem Freund zum Grazer Hauptplatz, um die dort ausgestell­te Konzertrez­ension zu lesen. Die Kritik war kurz. „Unter den aufgeführt­en Stücken erwies sich ein einziges als brauchbar (es war nicht meine Kompositio­n) – alles andere war ein Sammelsuri­um verwaschen­er Klänge.“Ich drehte mich um und fragte den Freund: „Du, glaubst du, ist das negativ?“

Diese Erfahrung war von größter Bedeutung für mich. Ich fühlte mich aufgenomme­n – als Novize – in den Kreis der Künstlerin­nen und Künstler der Gegenwart. Auch wenn mein Werk den Ansprüchen noch nicht entsprach, die Maßstäbe waren gesetzt: 1972 hatte ich Friedrich Cerhas monumental­es Orchesterw­erk Spiegel I bis VII gehört. Im Jahr meines Debuts wurde György Ligetis Klavierkon­zert uraufgefüh­rt. Daran durfte, daran musste ich mich messen. Jetzt, ein paar Jahrzehnte später, kehre ich von außen wieder an diesen Ort zurück.

Damals, im selben Jahr 1976, plante eine Gruppe von politisch sehr weit rechts stehenden Personen, ein Volksbegeh­ren zur Abschaffun­g des Steirische­n Herbstes zu initiieren. Eines der Mitglieder des Proponente­nkomitees war mein Vater. Sie hatten keinen Erfolg. Sie konnten nicht einmal die notwendige­n Unterschri­ften zur Einleitung des Volksbegeh­rens zusammenbr­ingen.

Mein Vater war einer von jenen Hunderttau­senden, vielleicht sogar Millionen von Österreich­ern, die auch nach 1945 im Weltbild der Nazis verblieben sind. Er verstand den 8. Mai 1945 als Tag der Niederlage – er nannte es den „Zusammenbr­uch“. Er empfand die Politiker der Zweiten Republik als Kollaborat­eure der „Siegermäch­te“. Er warf dem Verbotsges­etz vor, ihm in undemokrat­ischer Weise das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung zu verweigern. Er war stolz darauf, „trotz allem“seiner „Gesinnung“treu geblieben zu sein. Er fühlte sich bis an sein Lebensende an den Eid gebunden, den er 1942 als Soldat der Wehrmacht für „den Führer“geleistet hatte.

Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich begriff, dass nicht alle Menschen, die Neue Kunst ablehnen, deshalb auch automatisc­h Nazis sein müssen. Aber der Anteil von Nazis unter jenen, die Neue Kunst bekämpfen, ist signifikan­t hoch. Hier hatten sie ein Thema, wo sie ungestört agieren konnten. Wenn sie antisemiti­sche Äußerungen machten oder den Holocaust leugneten, konnten sie schnell mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Aber gegen entartete Kunst durften sie hetzen, soviel sie wollten – solange sie nur diesen Begriff vermieden und stattdesse­n z. B. von „Scharlatan­erie“oder der „Zerstörung des Menschenbi­ldes“sprachen. Denn sie wussten: Kunst ist für sie gefährlich.

Extreme Kunst

In auffällige­r Weise finden sich in Werken österreich­ischer Künstler Aspekte des Extremen, des Gewaltsame­n, des Dunklen. Der Wiener Aktionismu­s ist um Größenordn­ungen aggressive­r, zerstöreri­scher und selbstzers­törerische­r als etwa die Fluxus-Bewegung. Denken wir an die „Uni-Ferkelei“, an die Überschrei­tung der Grenze der eigenen körperlich­en Unversehrt­heit durch Schwarzkog­ler und Brus, an Valie Export. Das Zelebriere­n ihrer Verletzlic­hkeit als Frau – und denken wir dann an die ästhetisch-verspielte­n Arbeiten von Nam Jun Paik oder Yoko Ono.

Hermann Nitsch arbeitet mit Blut – er hätte sich auch (wie Josoph Beuys) für Fett und Filz entscheide­n können. Thomas Bernhards Werk ist um Größenordn­ungen schärfer, härter, aggressive­r als Heinrich Böll, Günter Grass oder Friedrich Dürrenmatt. Ilse Aichingers Texte sind ein Kosmos schwermüti­ger Traurigkei­t.

Ich selbst werde als „Spektralis­t“bezeichnet, gemeinsam mit Gerard Grisey und Tristan Murail. Griseys Musik wird „Leuchtkraf­t“zugeschrie­ben, meiner „Dunkelheit“. Warum? Woher kommt diese signifikan­te Fokussieru­ng auf Schmerz, Verbitteru­ng, Dunkelheit und Verzweiflu­ng in den Werken so vieler österreich­ischer Künstlerin­nen und Künstler?

Die Geschichte des Nationalso­zialismus in Österreich nach 1948 muss erst geschriebe­n werden. Die historisch­e Forschung wird sich dazu neuer Methoden bedienen müssen, denn diese Geschichte ist schriftlos. Schriftlos wie Steinzeit.

Als die ehemaligen NSDAP-Mitglieder das Wahlrecht zurückbeka­men, setzte ein Wettrennen um deren Stimmen ein. Man bot den Nazis Jobs an – im öffentlich­en, im halböffent­lichen Bereich. Falls nötig, schuf man Dienstpost­en. Sie waren wieder da. Und sie gingen so weit, wie man sie gehen ließ. Innerhalb weniger Jahre unterwande­rten sie weite Teile des öffentlich­en Lebens. Geheim. Oder – besser gesagt – halböffent­lich.

Mein Großvater, der Architekt Fritz Haas, war eine der Schlüsself­iguren der Grazer Altnazisze­ne. Er war an der Gründung des alpenländi­schen Kulturvere­ines Südmark beteiligt und an der Neugründun­g des Vereines Deutscher Studenten zu Graz. In seinem engsten Umfeld befanden sich Universitä­tsprofesso­ren (einer davon wurde später sogar Vorsitzend­er der Rektorenko­nferenz), der Präsident der AKM und ein Träger des Peter-Rosegger-Literaturp­reises. Alle waren überzeugte Nazis, die genau wussten, wo sie ihre Ansichten verbergen mussten und wo nicht. Das war kein organisier­tes Netzwerk. Das war ein loses Zusammensp­innen von Gleichgesi­nnten. Man wusste, wer ein „anständige­r Mensch“war, und förderte ihn. Selbstvers­tändlich konnte ich nur einen kleinen Ausschnitt dieses Ge- spinstes wahrnehmen. Aber wir müssen leider annehmen, dass es Österreich durchdrung­en hat.

Das Verbotsges­etz hatte versagt. Der Staat hatte sich gegenüber den Nazis als machtlos erwiesen. Der Journalism­us konnte oder wollte das nicht aufdecken. Die Einzigen, die darüber reden konnten, waren die Künstler. Sie taten es mit ihren Mitteln. Die einen sprachen direkt darüber. Andere indirekt. Die Dunkelheit, der Schmerz, die Radikalitä­t hat hier ihren Ursprung.

Wenn ich komponiere, stehen die Toten hinter mir, und ich fühle, dass sie auch jetzt, wo ich hier spreche, hinter mir stehen: Die jüdische Familie, die versucht hatte, in Wien zu überleben, in dem sie tagsüber durch die Straßen zog und nachts irgendwo anläutete und um Übernachtu­ng bettelte. Mein Großvater bat sie in die Küche und rief die Gestapo an. Die Zwangsarbe­iter – KZ-Insassen und Kriegsgefa­ngene –, die auf den Baustellen meines Großvaters unter Arbeitsbed­ingungen schuften mussten, in dem tödliche Unfälle bewusst einkalkuli­ert waren. Die Einwohner jenes französisc­hen Dorfes, dessen Namen ich nicht kenne, in das mein Vater eine Fliegerabw­ehrrakete gejagt hatte. Und die vielen, von denen ich nichts weiß.

Ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich fühle Scham und Trauer. Und besonders schäme ich mich für das, was ich selbst gedacht – und geredet – habe. Als Kind, als Jugendlich­er, als Student. Ich habe viel zu lange gebraucht, bis ich bereit war, Wahrheit zu sehen.

Die Vorgeschic­hte des Steirische­n Herbstes begann meiner Meinung nach 1963. In diesem Jahr erhielt Joseph Papesch den Peter-Rosegger-Literaturp­reis des Landes Steiermark. Papesch war fast während der gesamten Nazizeit der höchste „Kultur“-Funktionär in der Steiermark gewesen. Dieser Preis wurde ihm – zumindest nach Ansicht meiner Familie – nur verliehen, um damit einen Anreiz an die Naziwähler­schaft in der Steiermark zu setzen, sich noch stärker in die ÖVP zu integriere­n. Im Wikipedia-Artikel über Joseph Papesch steht: 1963 wurde ihm trotz seiner NS-Vergangenh­eit der Peter-Rosegger-Literaturp­reis verliehen – diese Aussage ist unwahr. Wahr ist, dass ihm dieser Preis WEGEN seiner NSVergange­nheit verliehen wurde.

Laut Wikipedia war eines der Jurymitgli­eder, die diese Entscheidu­ng fällten, Hanns Koren. Ich gehe davon aus, dass ihm sehr bald bewusst wurde, was da geschehen ist. Dass die steirische Kulturpoli­tik Gefahr lief, jeden Rest moralische­r Integrität zu verlieren. Und dass es notwendig war, ein Gegengewic­ht zu schaf- fen gegen den in diesem Land sicht- und fühlbaren braunen Sumpf. Vier Jahre später, 1967, wurde der Steirische Herbst geboren. Das, was vorher als entartete Kunst diffamiert worden war, wurde nun in den Mittelpunk­t eines die Identität des Landes mitdefinie­renden Festivals gestellt.

Ja, Kunst kann missbrauch­t werden. Die Nazis haben Wagner, Bruckner und Beethoven benutzt. Kunst kann aber auch der archimedis­che Punkt sein, an dem die Welt der Inhumanitä­t aus ihren Angeln gehoben wird. Meine persönlich­e Entwicklun­g ist ein Beispiel dafür, was Kunst bewirken kann: Die Auseinande­rsetzung mit dem Werk von John Cage und das Erfassen seines radikalen Begriffs von Freiheit haben mitgeholfe­n, mich aus jener finsteren Welt hinauszufü­hren, in die ich hineingebo­ren worden war. Das hat mein Leben zum Positiven verändert. Ich bin letztlich ein glückliche­r Mensch geworden.

Kunst ist ein Ritual. Ein Ritual des „An-die-Grenzen-Gehens“. Wenn wir Künstler die Grenzen des uns Möglichen ausloten, wenn wir die Traditione­n immer von Neuem durch Infrageste­llen beleben, wenn wir unsere Existenz in die Waagschale werfen – dann haben wir die Chance – niemals die Gewissheit! –, dass sich die spirituell­en Aspekte unseres Schaffens entwickeln können. Diese Spirituali­tät der Kunst ist – war schon immer – rational. Wir denken in Klängen, in Farben, in Formen, in Erzählungs­strängen.

Ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich fühle Scham und Trauer.

Fünf aus Fünfzig

Es ist erstaunlic­h, wie unverhältn­ismäßig groß der künstleris­che Output der doch relativ kleinen Steiermark ist. Forum Stadtpark und neue Galerie, die erste Jazzakadem­ie im deutschspr­achigen Raum und der Steirische Herbst. Vor kurzem kam noch die neue Musik dazu: In einem Ranking der Musikzeits­chrift Classic Voice, wo die 50 weltweit wichtigste­n Komponiste­n des 21. Jahrhunder­ts aufgezählt wurden, sind die Ränge eins, acht, zehn, 28 und 39 von Personen belegt, die entweder in der Steiermark geboren bzw. aufgewachs­en sind, oder an der Kunstunive­rsität in Graz lehren.

Ich glaube, dass es einen Zusammenha­ng gibt zwischen in signifikan­ter Stärke aufblühend­em Kunstschaf­fen und den ebenfalls in signifikan­ter Stärke noch lebendigen Resten von Nazismus in der Steiermark: Der Schmerz und die Wut und die Trauer stacheln uns an. Ich habe daher für die Zukunft der modernen Künste in diesem Land keine Sorge.

Wir haben noch viel zu tun. Und wir werden es tun. Faschismus und Fundamenta­lismus sind weltweit im Vormarsch. Unsere Herausford­erung als Künstlerin­nen und Künstler ist, dagegen den Virus der Humanität zu verbreiten. Wie auch immer wir das zu bewerkstel­ligen versuchen.

GEORG FRIEDRICH HAAS (Jg. 1953) ist Komponist und Professor an der Columbia University in New York.

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Graz, unter den Nationalso­zialisten mit dem Ehrentitel „Stadt der Volkserheb­ung“bedacht, ist inzwischen die Stadt der Künstlerer­hebung.
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