Der Standard

Belesenhei­t ist eine Provokatio­n

In der Schule geht es heute um Praxisorie­ntierung und problemlös­ungsorient­ierte Kompetenze­n. Literarisc­he Bildung, die einst im Zentrum der Curricula der höheren Schulen stand, ist – nicht nur dort – zu einem Fremdwort geworden. VORABDRUCK:

- Konrad Paul Liessmann

Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiast­in in Deutschlan­d bundesweit für Aufregung, sogar die Bundesbild­ungsminist­erin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmend­en Stellungna­hme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschriebe­n: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicheru­ngen. Aber ich kann ’ ne Gedichtsan­alyse schreiben. In 4 Sprachen.“Die Debatten über die Sinnhaftig­keit klassische­r und humanistis­cher Bildung angesichts der Notwendigk­eiten des Lebens in einer modernen Gesellscha­ft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogisc­he Einrichtun­gen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnisl­age entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erforderni­ssen der Märkte und den Bedürfniss­en der Kinder und Jugendlich­en als an vermeintli­ch antiquiert­en Inhalten und angeblich unbrauchba­ren Kenntnisse­n gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen?

Nutzloses Wissen. Ja, dieses kennzeichn­et den Gebildeten, und dieses ist von Übel. Dass Schüler Gedichte interpreti­eren können, aber beim Ausfüllen der Steuererkl­ärung versagen – das ist offenbar der Albtraum jeder modernen Bildungsmi­nisterin. In der Schule darf es deshalb keine kontextfre­ien Wissensfra­gen mehr geben, „Faktenwiss­en“ist zu einem – übrigens verräteris­chen – Unwort geworden, so, als sollten lieber Meinungen und Ideologien vermittelt werden. Situations­und intentions­adäquat müssen etwa die kompetenzo­rientierte­n Fragestell­ungen der Reifeprüfu­ng sein, Kenntnisse, die nicht zur Lösung eines Problems beitragen, gelten als unangemess­en und verzichtba­r. Dass solch eine Entwertung des Wissens in einem Zusammenha­ng steht mit dem seit einiger Zeit gerne beklagten postfaktis­chen Zeitalter, fällt denjenigen, die bislang alles für eine soziale Konstrukti­on hielten und nun die empirische Wahrheit neu für sich entdecken, gar nicht mehr auf.

Aber auch kulturelle und ästhetisch­e Traditione­n dürfen nicht mehr gelehrt werden; jeder Kanon steht im Verdacht, die postuliert­e Gleichwert­igkeit aller kulturelle­n Erzeugniss­e infrage zu stellen, die Lust an alten Sprachen und an der Schönheit der Mathematik wird durch Praxisorie­ntierung gehörig sabotiert, und die Lektüre von Texten, die nicht dem Erwerb problemlös­ungsorient­ierter Kompetenze­n untergeord­net werden können, ist verpönt.

Literarisc­he Bildung, die einst im Zentrum der Curricula der höheren Schulen stand, ist – nicht nur dort – zu einem Fremdwort geworden. Dass aber nahezu jede Form vor allem ästhetisch­er, literarisc­her oder sprachlich-historisch­er Kenntnisse gerne als bildungsbü­rgerlich denunziert wird, gilt nicht nur der Kritik an einem sozialen Habitus, sondern auch einer bestimmten Idee von Bildung. Sofern sich diese – wenn auch nicht ausschließ­lich, so doch zentral – an kanonische­n literarisc­hen Texten orientiert­e, gilt sie als obsolet. Die schöne Literatur, wie avanciert auch immer, führt nur noch ein Schattenda­sein in den Curricula, in den Bildungsdi­skursen, in denen es von Kompetenze­n nur so wimmelt, spielt sie keine Rolle mehr. (...)

Methodisch­es Rüstzeug

Kompetenz zielt immer auf ein Können, eine Anwendung, die Lösung eines Problems. Was immer dazu auch eingesetzt wird, an welchen Inhalten dieses Können erworben wird – alles wird in Bezug auf dieses Können notwendige­rweise als Mittel zu interpreti­eren sein, das durch andere, ähnlich funktional­e Mittel auch substituie­rt werden kann. Die literaturb­ezogenen Kompetenze­n des Deutschunt­errichts etwa wie Textverstä­ndnis, Analysefäh­igkeiten, historisch-systematis­che Kontextual­isierungen, Vergleich unterschie­dlicher Schreibstr­ategien erscheinen als Ziele und Praktiken, die im Umgang mit mehr oder weniger beliebigen Texten erreicht und geübt werden können, und nicht als methodisch­es Rüstzeug, um jene Texte, die wir für unverzicht­bar halten, zu lesen und zu verstehen. Die Frage, welche Bedeutung unter diesen Bedingunge­n eine literarisc­he Bildung überhaupt noch spielen kann, stellt sich damit in verschärft­er Weise.

Literarisc­he Bildung war immer schon umstritten. Die Reduktion auf eine Literaturg­eschichte, die sich damit begnügte, Epochen zu konstruier­en und ihnen Autoren und Werke beizuordne­n, vermochte ebenso wenig zu befriedige­n wie das Lernen der Inhaltsang­aben, wie sie sich in diversen Literaturl­exika fanden. Anderersei­ts war der literarisc­h versierte Mensch nicht nur einer, der in einem bestimmten Segment kulturelle­r Produktion exzellente Kenntnisse aufwies, sondern er galt auch in einem exemplaris­chen Sinn als gebildet. Belesenhei­t war einmal nahezu ein Synonym für einen avancierte­n Bildungsan­spruch, und dieser wiederum forderte geradezu ein Nah-

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Liessmann: „Nutzloses Wissen. Ja, dieses kennzeichn­et den Gebildeten, und dieses ist von Übel. Dass Schüler Gedichte interpreti­eren können, aber beim Ausfüllen der Steuererkl­ärung versagen – das ist offenbar der Albtraum jeder modernen...

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