Belesenheit ist eine Provokation
In der Schule geht es heute um Praxisorientierung und problemlösungsorientierte Kompetenzen. Literarische Bildung, die einst im Zentrum der Curricula der höheren Schulen stand, ist – nicht nur dort – zu einem Fremdwort geworden. VORABDRUCK:
Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiastin in Deutschland bundesweit für Aufregung, sogar die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen?
Nutzloses Wissen. Ja, dieses kennzeichnet den Gebildeten, und dieses ist von Übel. Dass Schüler Gedichte interpretieren können, aber beim Ausfüllen der Steuererklärung versagen – das ist offenbar der Albtraum jeder modernen Bildungsministerin. In der Schule darf es deshalb keine kontextfreien Wissensfragen mehr geben, „Faktenwissen“ist zu einem – übrigens verräterischen – Unwort geworden, so, als sollten lieber Meinungen und Ideologien vermittelt werden. Situationsund intentionsadäquat müssen etwa die kompetenzorientierten Fragestellungen der Reifeprüfung sein, Kenntnisse, die nicht zur Lösung eines Problems beitragen, gelten als unangemessen und verzichtbar. Dass solch eine Entwertung des Wissens in einem Zusammenhang steht mit dem seit einiger Zeit gerne beklagten postfaktischen Zeitalter, fällt denjenigen, die bislang alles für eine soziale Konstruktion hielten und nun die empirische Wahrheit neu für sich entdecken, gar nicht mehr auf.
Aber auch kulturelle und ästhetische Traditionen dürfen nicht mehr gelehrt werden; jeder Kanon steht im Verdacht, die postulierte Gleichwertigkeit aller kulturellen Erzeugnisse infrage zu stellen, die Lust an alten Sprachen und an der Schönheit der Mathematik wird durch Praxisorientierung gehörig sabotiert, und die Lektüre von Texten, die nicht dem Erwerb problemlösungsorientierter Kompetenzen untergeordnet werden können, ist verpönt.
Literarische Bildung, die einst im Zentrum der Curricula der höheren Schulen stand, ist – nicht nur dort – zu einem Fremdwort geworden. Dass aber nahezu jede Form vor allem ästhetischer, literarischer oder sprachlich-historischer Kenntnisse gerne als bildungsbürgerlich denunziert wird, gilt nicht nur der Kritik an einem sozialen Habitus, sondern auch einer bestimmten Idee von Bildung. Sofern sich diese – wenn auch nicht ausschließlich, so doch zentral – an kanonischen literarischen Texten orientierte, gilt sie als obsolet. Die schöne Literatur, wie avanciert auch immer, führt nur noch ein Schattendasein in den Curricula, in den Bildungsdiskursen, in denen es von Kompetenzen nur so wimmelt, spielt sie keine Rolle mehr. (...)
Methodisches Rüstzeug
Kompetenz zielt immer auf ein Können, eine Anwendung, die Lösung eines Problems. Was immer dazu auch eingesetzt wird, an welchen Inhalten dieses Können erworben wird – alles wird in Bezug auf dieses Können notwendigerweise als Mittel zu interpretieren sein, das durch andere, ähnlich funktionale Mittel auch substituiert werden kann. Die literaturbezogenen Kompetenzen des Deutschunterrichts etwa wie Textverständnis, Analysefähigkeiten, historisch-systematische Kontextualisierungen, Vergleich unterschiedlicher Schreibstrategien erscheinen als Ziele und Praktiken, die im Umgang mit mehr oder weniger beliebigen Texten erreicht und geübt werden können, und nicht als methodisches Rüstzeug, um jene Texte, die wir für unverzichtbar halten, zu lesen und zu verstehen. Die Frage, welche Bedeutung unter diesen Bedingungen eine literarische Bildung überhaupt noch spielen kann, stellt sich damit in verschärfter Weise.
Literarische Bildung war immer schon umstritten. Die Reduktion auf eine Literaturgeschichte, die sich damit begnügte, Epochen zu konstruieren und ihnen Autoren und Werke beizuordnen, vermochte ebenso wenig zu befriedigen wie das Lernen der Inhaltsangaben, wie sie sich in diversen Literaturlexika fanden. Andererseits war der literarisch versierte Mensch nicht nur einer, der in einem bestimmten Segment kultureller Produktion exzellente Kenntnisse aufwies, sondern er galt auch in einem exemplarischen Sinn als gebildet. Belesenheit war einmal nahezu ein Synonym für einen avancierten Bildungsanspruch, und dieser wiederum forderte geradezu ein Nah-