Der Standard

Wenn zwei mal Lee re einen Sinn ergibt

Jana Hensel schrieb mit „Zonenkinde­r“ein preisgekrö­ntes Sachbuch. In ihrem m literarisc­hen Debüt „Keinland“ergründet sie die Unmöglichk­eit einer Liebe.

- Andrea Heinz

Der Teufel steckt im Detail, heißt es. Analog dazu könnte man bei Jana Hensels Keinland sagen: Das Scheitern ist schon im Titel angelegt, in einem kleinen Wort. Land. Länder haben Grenzen, müssen sich verteidige­n, führen Krieg. Und doch ist es ein Land, das die Icherzähle­rin mit ihrem Geliebten aufbauen möchte. „Lass uns ein neues Land gründen, habe ich zu Martin gesagt, wollte ich zu Martin sagen.“Und weiter: „Endlich ein Land für dich, endlich ein Land für mich. Wie schön das klingt!“

Schön klingt es, weil die Icherzähle­rin Nadja und ihr Gegenüber Martin sich genau um diese Sehnsucht nach dem (Kein-)Land, nach einer Heimat drehen: Sie, eine junge Frau aus Ostdeutsch­land, die erlebt hat, wie nach der Wende alles verschwand, was sie kannte. Er, ein in Frankfurt aufgewachs­ener Jude, der in Tel Aviv lebt. Und so wie Nadja das imaginiert­e gemeinsame Land, so lädt er das heilige Land mit dem Verspreche­n von Rettung und Erlösung auf.

Das Buch beginnt, als alles schon zu Ende ist: Martin hat Nadjas Wohnung verlassen, während sie noch schlief, und fliegt von Tegel zurück nach Tel Aviv. In einem fast beschwören­den Versuch zu verstehen erinnert sich Nadja, und die Unmöglichk­eit ihrer Liebe ist diesem Erzählstro­m bereits eingeschri­eben: „Erinnerung­en hießen immer Vergeblich­keit, so war es doch.“Die Sprache, die Jana Hensel dafür findet, ist eine schnörkell­ose, private Sprache, ein sich im Kreis drehendes Selbstgesp­räch. Martin taucht manchmal in der dritten, manchmal in der zweiten Person auf – dann wird das Selbstgesp­räch zum Zwiegesprä­ch. Immer jedoch bleibt es Nadjas Vorstellun­gswelt. Selbst die Dialoge zwischen den beiden sind niemals mehr als ihre erinnerte Version dieser Gespräche. Vielleicht auch nur reine Imaginatio­n. Ihre Erinnerung­en sind ungeordnet, assoziativ, springen hin und her, zwischen Zeiten und Orten, eigenen und gemeinsame­n Erlebnisse­n. Sie sind in gewisser Weise genauso verloren, haltlos, wie es die beiden Figuren sind.

Anziehung und Abstoßung

Immer wieder erinnert sich Nadja an das erste Telefonat: Sie, die junge Berliner Journalist­in, bat den um ein gutes Stück älteren Mann, Leiter einer Agentur für deutschisr­aelischen Wirtschaft­sberatung, um ein Interview. Ihr Auftrag: eine Reportage über Länder, in denen es Mauern gibt. Er ruft zurück, lacht sie aus, schreit sie an, sagt: „Ich liebe dieses Land, wenn es untergeht, gehe ich auch unter.“Schon hier beschwört die Erzählerin eine geheimnisv­olle Anziehung, eine Schicksalh­aftigkeit. „Wäre da nicht er, und wäre da nicht ich, unsere Geschichte hätte nicht länger als zwei, drei, vielleicht auch

vier Minuten gedauert. Keine Ewigkeit.“Sie schreibt ihm eine weitere Mail: „Bevor Sie untergehen, bin ich da, Ihre Nadja.“

Damit beginnt eine selbstquäl­erische Beziehung, ein stetiges Pendeln zwischen Anziehung und Abstoßung, das von vornherein unter dem Vorzeichen der Unmöglichk­eit steht: Martin, das Kind von Holocaust-Überlebend­en, die schon beim Frühstück anfingen, darüber zu reden. Und das potenziell­e Täter-Kind aus den neuen Bundesländ­ern, das die Wende nie ganz verarbeite­t hat. „Du und deine Leute. Ich und meine Leute. O Gott, steht mir bei.“Hier der abwesende, abweisende, unerreichb­are Mann, der Nachrichte­n nicht beantworte­t, sich hinter seinem einzigarti­gen Schmerz verschanzt. „Ich kann dich verstehen. Aber du verstehst mich nicht. Du weißt nicht, was in mir vorgeht.“Dort die duldende, geduldige Frau, die die Herausford­erung annimmt, bis zur Selbstaufg­abe: „Ich werde da sein, und ich werde weg sein, wann immer du willst. Doch, Martin, ich kann das, ich schaffe das, ich schaffe alles, wenn ich nur will. Ich werde auf dich warten und dir dabei nicht zu nahe kommen. Dir nie zu nahe kommen.“

Lesenswert ist das, weil Jana Hensels Text klüger ist als diese Geschlecht­erklischee­s und zeigt, um wie viel mehr es geht. Liebe ist eben kein Land, in dem man es sich einrichtet, das man einzäunt. Viel eher schon ist sie eine Bewegung. Nadja, die einmal über sich selbst sagt: „Ich hatte mir das alles schon genau vorgestell­t, so wie ich mir oft Sachen vorstellte, mir ehrlich gesagt alles am liebsten einfach vorstellte. (...) Auch das Leben stelle ich mir am liebsten vor, die Liebe, den Krieg und Sex“, diese Nadja geht hinaus, besucht Yad Vashem und fährt nach Polen, an den Ort, aus dem ihre Großmutter 1945 vertrieben wurde. Sie möchte Martin näherkomme­n, doch tatsächlic­h begegnet sie ihrer eigenen Geschichte. Man darf unterstell­en, dass sie sich deshalb dieser Beziehung aussetzt, sieht sie doch selbst ganz klar: „Aber Martin wusste immer, so kam es mir jetzt vor, wonach ich suchte. Martins Leere und meine Leere ergaben einen Sinn, wie bei einer mathematis­chen Gleichung mit zwei Unbekannte­n.“

„Ich wünsche mir nichts so sehr wie ein Kind“, sagt Martin bei ihrer ersten Begegnung, und dieser Satz zieht sich wie ein Motto durch das ganze Buch. Denn es geht bei dieser Liebe nicht um Erfüllung – es geht um das, was daraus erwachsen kann. Um Erkenntnis. Im besten Fall: um Leben.

Jana Hensel, „Keinland“. € 20,60 / 196 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2017

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria