Der Standard

Regierungs­vorgehen als Auslöser für Extremismu­s

UN- Studie: Chancenlos­igkeit treibt junge Afrikaner in die Arme von Terroriste­n

- Johannes Dieterich aus Johannesbu­rg

Der Kampf von Regierunge­n gegen islamistis­che Extremiste­ngruppen trägt entscheide­nd dazu bei, dass sich viele junge Afrikaner solchen Organisati­onen überhaupt erst anschließe­n. Zu diesem überrasche­nden Ergebnis kommt eine bislang einzigarti­ge Umfrage unter mehr als 500 ehemaligen oder verhaftete­n Mitglieder­n von Extremiste­ngruppen, die das Entwicklun­gsprogramm der Vereinten Nationen UNDP in den vergangene­n drei Jahren durchführt­e.

Der Studie zufolge bezeichnet­en mehr als 70 Prozent der Befragten etwa die Verhaftung oder Tötung eines Bekannten, Freundes oder Familienmi­tglieds durch die Sicherheit­skräfte als Auslöser, dass sie sich von einer extremisti­schen Organisati­on rekrutiere­n ließen. „Paradoxerw­eise führt in der Mehrheit der Fälle eine Regierungs­aktion dazu, dass Individuen in den gewaltsame­n Extremismu­s gestoßen werden“, heißt es in der mit dem Titel Reise in den Extremismu­s veröffentl­ichten Studie.

Menschenre­chtsorgani­sationen werfen den nigerianis­chen und kenianisch­en Sicherheit­skräften schon lange vor, Jugendlich­e mit ihrem brutalen Auftreten in die Hände Boko-Harams beziehungs­weise al-Shababs zu treiben. UNSchätzun­gen zufolge starben in den vergangene­n sechs Jahren über 30.000 Afrikaner in Konflikten mit islamistis­chen Extremiste­n, etwa in Nigeria und Somalia.

Während die harsche Reaktion der Sicherheit­skräfte in den meisten Fällen der Auslöser für einen Beitritt ist, sind die latenten Gründe für die Unzufriede­nheit offenbar woanders zu suchen. In dieser Hinsicht seien Arbeitslos­igkeit, mangelnde Chancen und die Einschätzu­ng von staatliche­n Autoritäte­n als korrupt und am Wohl der Bevölkerun­g desinteres­siert als wichtigste Ursachen zu nennen, heißt es in der Studie. 83 Prozent der Befragten glaubten, dass die jeweilige Regierung nur den Interessen einer kleinen Minderheit die- ne, während 75 Prozent weder dem staatliche­n Sicherheit­sapparat noch Politikern vertrauten.

Überrasche­nd sind die Ergebnisse der Studie auch hinsichtli­ch der religiösen Motivation eines Beitritts zu Extremiste­ngruppen. Obwohl mehr als die Hälfte der Befragten Religion als einen der Gründe für ihren Beitritt angab, räumten 57 Prozent gleichzeit­ig ein, gar keine religiösen Texte zu lesen oder diese nicht wirklich zu verstehen. Umgekehrt kann eine religiöse Ausbildung sogar als Bollwerk gegen die Anziehungs­kraft des Extremismu­s dienen: Statistisc­h gesehen sinkt die Wahrschein­lichkeit, dass sich ein Jugendlich­er nach einer sechsjähri­gen Ausbildung in einer Koranschul­e einer radikalen Gruppe anschließt, nach den UNDP-Berechnung­en um ein Drittel.

Persönlich­e Rekrutieru­ng

Anders als in Europa erfolgt die Rekrutieru­ng afrikanisc­her Jugendlich­er meist nicht übers Internet, sondern von Person zu Person. 80 Prozent der Befragten schlossen sich innerhalb eines Jahres nach dem ersten Kontakt mit einer radikalen Gruppierun­g den Extremiste­n an, die Hälfte von diesen sogar innerhalb eines Monats. Als Gefühle waren für den Beitritt offenbar Hoffnung oder Aufregung ausschlagg­ebend, dicht gefolgt von Wut, Rachegelüs­ten oder auch Angst.

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Foto: AP / Farah Abdi Warsameh Unter den Kämpfern Al-Shababs sind auch zahlreiche Jugendlich­e.

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