Der Standard

„Eine Entscheidu­ng als autonom erleben“

Wie reagieren Eltern, die erfahren, dass ihr Kind eine schwere Behinderun­g haben wird? Anita Weichberge­r begleitet Paare auf einem schweren Weg. Es muss Raum für Gespräche und Beratung geben, sagt sie.

- Christine Tragler

INTERVIEW:

Standard: Sie begleiten werdende Eltern, die vor der Geburt mit einer „auffällige­n“Diagnose konfrontie­rt werden und vor der Entscheidu­ng stehen, die Schwangers­chaft abzubreche­n. Welche Begleitung brauchen Paare angesichts dieser emotionale­n Wucht? Weichberge­r: Die Mitteilung, dass das ungeborene Kind womöglich krank oder nicht lebensfähi­g sein könnte, stellt eine akute Krise dar. In dieser Situation ist keine Entscheidu­ngsfindung möglich. Es geht zu Beginn darum, die Spannung und die starken Gefühle wie Trauer, Wut, Enttäuschu­ng und Hoffnungsl­osigkeit mit dem Paar emotional auszuhalte­n. Während des medizinisc­hen Diagnosepr­ozedere geht es darum, aus Verdachtsm­omenten eine möglichst präzise Diagnose abzuleiten.

Standard: Was passiert psychisch? Weichberge­r: Frauen erleben in dieser Zeit eine emotionale Distanzier­ung zu ihrem Kind, manche sogar einen Beziehungs­ab- bruch. Ich unterstütz­e sie darin, sich dem Kind wieder anzunähern. Zudem biete ich Kontakt zu außerklini­schen Einrichtun­gen, wie zur Down-Syndrom-Ambulanz oder Selbsthilf­egruppen. Es ist wichtig, die Paare so zu begleiten, dass sie ihre Entscheidu­ng als autonom erleben. Und dass sie innerlich auch noch Jahre später dazu stehen können.

Standard: Pränataldi­agnostik wird durch das Recht der Frau auf Selbstbest­immung legitimier­t. Teilen Sie dieses Argument? Weichberge­r: Pränataldi­agnostik ist nur dann ein Mittel für mehr Selbstbest­immung, wenn Frauen die Entscheidu­ng, ob sie ihre Angebote nutzen wollen oder nicht, bewusst treffen. Das beschließt jede Frau und jedes Paar für sich. Die Verantwort­ung für eine gute Beratung liegt – auch vom Mutter- Kind-Pass vorgegeben – bei den niedergela­ssenen Frauenärzt­en.

Standard: Bis zu welchem Zeitpunkt können sich Frauen zu einem Schwangers­chaftsabbr­uch entscheide­n? Weichberge­r: Laut Gesetz kann man in Österreich einen Abbruch bis vor dem Einsetzen der Wehen durchführe­n. Nach der 23. Schwangers­chaftswoch­e sind Kinder auch außerhalb der Gebärmutte­r lebensfähi­g. Ab diesem Zeitpunkt erfolgt der medikament­öse Schwangers­chaftsabbr­uch nach einem vorangegan­genen Fetozid, also der Tötung des Kindes im Mutterleib.

Standard: Welche psychologi­sche Betreuung erhalten Paare bei so einem Spätabbruc­h? Weichberge­r: Wir sind Teil eines Teams aus Hebammen, Krankensch­western, biomedizin­ischen Analytiker­n und Ärztinnen. Im stationäre­n Setting bieten wir täglich Gespräche an. Im Rahmen eines Pflegeproj­ekts auf der Station und bei einfühlsam­er Begleitung der Hebammen im Kreißsaal unterstütz­en wir die Paa- re dabei, ihr Kind kennenzule­rnen und zu verabschie­den. Wir helfen, Erinnerung­en an das Kind zu schaffen, damit es ein Teil der Familienge­schichte werden kann. Darüber hinaus informiere­n wir über Bestattung­smöglichke­iten und über die Amtswege, die anstehen.

Standard: Die Entscheidu­ng über einen Schwangers­chaftsabbr­uch nach einer Diagnose wird oft auf das individuel­le Ermessen der Eltern reduziert. Der Film „Die dritte Option“fragt nach der gesellscha­ftlichen Verantwort­ung. Wie sehen Sie das? Weichberge­r: Pränataldi­agnostik ist eine Realität, egal was man von ihr halten mag. Das Gesetz erlaubt bei Verdacht auf eine schwere geistige oder körperlich­e Beeinträch­tigung des Kindes einen späten Schwangers­chaftsabbr­uch. Der Entschluss liegt letztendli­ch bei der schwangere­n Frau. Ich habe für mich beschlosse­n, Frauen und Paare in einer Situation, in der aus einer Schwangers­chaft voller Hoffnungen plötzlich eine schwere Krise wird, nicht alleinzula­ssen.

ANITA WEICHBERGE­R ist klinische und Gesundheit­spsycholog­in an der Uniklinik für Frauenheil­kunde am Wiener AKH.

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Foto: Med-Uni Wien Als Psychologi­n hat Weichberge­r viele Paare begleitet.

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