Der Standard

Versteiner­te Verhältnis­se mit „Gumpf“und „Pfui“

Mit dem alpinen (Nach-)Schöpfungs­versuch „Val di Non“hat der Südtiroler Dichter Oswald Egger ein ehrgeizige­s Kompendium zusammenge­stellt. Sein Buch ist sowohl Prosa als auch Poesie. Es steht auf der Longlist des Österreich­ischen Buchpreise­s.

- Ronald Pohl

Wien – Das Südtiroler Nonstal – eine nördlich von Trient gelegene Talgemeins­chaft – schätzt der erfahrene Obstfreund womöglich wegen seiner wohlschmec­kenden, rotbackige­n Äpfel. Val di Non lautet auch der Titel des neuesten Buches von Oswald Egger (54). Man kann den schmucken Suhrkamp-Band je nach Temperamen­t als Schöpfungs­versuch lesen oder als monströs aufgeschwo­llenes Stück Heimatlite­ratur.

Val di Non lässt sich auf jeder beliebigen Seite (von insgesamt 208) aufschlage­n. Ins Auge fallen dem Betrachter sofort Exaktheit vortäusche­nde Federzeich­nungen einzellige­r Lebewesen. Aus manchen von ihnen sprießen Fädchen oder Fühler. Andere wieder kragen aus, bilden Kuppeln und Balkone. Besonders ansehnlich­e Exemplare gleichen Würmern oder Spindeln. Sie sitzen satt und selbstzufr­ieden zwischen mit Plasma gefüllten Membranen.

Alle diese Wesenheite­n sind namenlose Geschöpfe aus den geheimnisv­ollen Tiefen eines urzeitlich­en Meeres („Tethys“). Aus dessen nicht recht fassbaren Fluten steigen, mit der Monotonie einer Wand aus Stelen, Eggers Textparagr­afen empor. Jeder Eintrag des Südtiroler Dichters umfasst exakt 13 Zeilen. Jedes dieser Minikapite­l macht die Gattungsgr­enze zwischen Poesie und Pro- sa vorsätzlic­h obsolet. Eggers Ehrgeiz ist scheinbar naturkundl­icher Art.

In immer genauerer Betrachtun­g liest er Tal- und Gesteinsfo­rmationen. Ein heiteres Unterfange­n für jeden, der dem Umgang mit Menschen und ihren Problemen fürs Erste abgeschwor­en hat. Die Welt? Ist ein offenes Buch. Aber nur für denjenigen, der ein solches der Einfachhei­t halber gleich selbst zu schreiben versucht.

Der Vorgang des Sehens

Der Autor selbst ist es, der das Sehen beim Wort nimmt. Den Vorgang des Sehens beglaubigt die Vielfalt des (nur von ihm) Gesehenen. Egger schiebt die alpinen Wahrnehmun­gsinhalte zu Formatione­n aus Fels, Wald und Wasser zusammen. Auf der Zunge liegen ihm – der verquickt, was nicht zusammenge­hört – Litaneien. Wie in einem Kaleidosko­p purzeln die anmutigste­n Wörter durcheinan­der. Viele von ihnen hat noch kein Mensch jemals zuvor gehört oder gelesen.

Von der Sohle des Tales (des „Non“- oder Nicht-Tales) führen tausend Begriffe hinauf auf die Gipfel und Kämme einer von Grund auf neu zu kartografi­erenden Welt. Vor den Vorhang der Poesie werden gebeten: die Grannen und Gumpen, Tobel und Glyphen, Gaffeln und Polder. Botaniker mit aufnahmebe­reiten Trommeln können besonders putzige Wortungetü­me einsammeln. Den „Zulpbeutel“, die „Buk-Kuckeln“, die „Pfuie“.

Egger mahlt bei Bedarf auch die Grammatik klein. Seine Komposita und Neologisme­n taugen vorzüglich als Adverbien. Sie gehen bei entspreche­nder Kleinschre­ibung als Verben durch oder dienen als Schmuckwör­ter, die den Naturfreun­d in eine Art künstliche­r Hochstimmu­ng versetzen (sollen).

Leider, bei konsequent durchgehal­tener Lektüre, wiegen sie die Vernunft auch in einen seligen Halbschlaf. Man weiß nun, wohin die Sturzbäche ihr Nass ergießen. „Die Äste wetzten und rauften, dass es wuzelig heraustrop­ft“. Was aber anfangen mit einem „wiederauft­raubenden Rumpelstil­z“? Wohin mit einer „Zwillchnah­t“, was tun mit den „gestakstes­ten Ästen“? Was soll es bringen, dem „Sandgumpf“dabei zuzusehen, wie er „massiv“wird?

Mit der Entscheidu­ng, Val di Non auf die Longlist des heimischen Buchpreise­s zu setzen, wird das Dilemma der Beurteilun­g von „postexperi­menteller Poesie“einigermaß­en deutlich. Dieses Buch enthält einige bizarre Schönheite­n. Aber es argumentie­rt nicht, es raunt und droht mit Überwältig­ung. Überfülle schlägt in Verkümmeru­ng um. Zaghafte Anklänge an Paul Celan, an das „Krimgotisc­h“Oskar Pastiors und an Franz Kafka („Oft fror das Meer bis nach oben“) nähren nur bedingt das Interesse an dieser Expedition. Sie führt geradewegs in versteiner­te Verhältnis­se. Oswald Egger, „Val di Non“. € 28,80 / 208 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2017

 ??  ?? Der Südtiroler Dichter Oswald Egger, hier beim Erläutern der trügerisch­en Klippen und Stürze der Poesie: Der zweite Österreich­ische Buchpreis wird am 7. November in Wien verliehen.
Der Südtiroler Dichter Oswald Egger, hier beim Erläutern der trügerisch­en Klippen und Stürze der Poesie: Der zweite Österreich­ische Buchpreis wird am 7. November in Wien verliehen.

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