„Das kann nicht mehr zusammengehalten werden“
Das Referendum über die kurdische Unabhängigkeit im Nordirak ist unweigerlich der Beginn des Separationsprozesses zwischen Erbil und Bagdad, sagt der kurdische Thinktank-Gründer Dlawer Ala’Aldeen.
INTERVIEW: STANDARD: Wird das Referendum die irakischen Kurden in die Unabhängigkeit führen? Ala’Aldeen: Die Entwicklung ist wohl unumkehrbar, die Unstimmigkeiten zwischen Bagdad und Erbil haben einen irreparablen Zustand erreicht: Das kann nicht mehr zusammengehalten werden. Die Frage nach der Unabhängigkeit ist eine nach dem Wann – und nicht nach dem Ob. Aber niemand hat erwartet, dass es „jetzt“ist. Bisher war das Thema Unabhängigkeit eine – hauptsächlich interne – Debatte. Indem der Termin 25. September festgelegt wurde, wurde aus der Debatte ein Prozess. Ein Termin impliziert, dass es nach dem Referendum in Richtung Unabhängigkeit geht.
STANDARD: Anfangs glaubte man, die Kurdenführung wolle Bagdad nur die Rute ins Fenster stellen. Ala’Aldeen: Das Referendum wird auf alle Fälle zu einer Kaskade von Ereignissen führen, die den Trennungsprozess beschleunigen.
STANDARD: Ist es ausgeschlossen, dass es doch den Zweck hat, die Forderungen der Kurden in Bagdad durchzusetzen? Ala’Aldeen: Ich schließe gar nichts aus – wenn zum Beispiel Bagdad die Initiative ergreifen würde und die klare Verpflichtung einginge, die Kurden für die Vergangenheit zu entschädigen. Dazu würde gehören, die Souveränität, die die Kurden bereits de facto haben, zu formalisieren und ihnen die früher arabisierten Gebiete mit kurdischer Mehrheit zu überlassen. Die Kurden kontrollieren diese Gebiete ohnehin, aber Bagdad müsste das in einer politischen Übereinkunft formalisieren, die über der Verfassung steht, oder aber die Verfassung ändern und Kurdistan innerhalb des Irak Souveränität geben, zum Beispiel in Form einer losen Konföderation zwischen Bagdad und Erbil.
Vielleicht würde das ja genügen – wobei ich nicht sage, dass das sicher ist. Aber es wäre immerhin eine starke Alternative.
Aber Bagdad konnte sich nie dazu entscheiden – auch weil kein Politiker in Bagdad das tun könnte, ohne von den Wählern oder seinen Politikerkollegen abgestraft zu werden. Bagdad ist nicht mehr in der Lage, den Kurden in ausreichender Form entgegenzukommen. Aber auch die Kurden haben nicht genügend in Bagdad investiert, um die Verantwortung, die Eigentümerschaft für das Land, zu teilen und sich nicht entfremden zu lassen. Es ist gegenseitig.
STANDARD: Für Premier Haidar alAbadi ist es im Moment besonders schwierig: 2018 gibt es Wahlen. Ala’Aldeen: Das Phänomen des Populismus, das Europa dominiert, gibt es auch im Irak – nur noch schlimmer. Niemand scheint in der Lage zu sein, sich wirklich zu überlegen: Wie retten wir den Irak?
Das gilt auch für die internationalen Partner: Sie bestehen auf der territorialen Einheit des Irak, damit meinen sie die Grenzen, wie sie auf der Landkarte gezogen sind. Aber sie überlegen nicht, wie man in die Einheit der Menschen im Irak investieren könnte, in einen Prozess des Aufbaus von Staat und Nation, in Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung, in die Förderung der Demokratie. Alle reden über Grenzen – jene, die jeder in der Region ignoriert und verletzt. Schauen Sie sich den Krieg in Syrien und im Irak an, wie staatliche und nichtstaatliche Akteure die Grenzen überschritten haben, als würden sie gar nicht existieren.
Die Idee der territorialen Integrität ist kein gültiger Grund mehr, den Unabhängigkeitsprozess zu stoppen: Da brauchte es ein besseres Angebot, das zu einer Win-win-Situation führt – zu einer friedlicheren Nachbarschaft. Anstatt zu sagen, was sie nicht wollen, sollten sie sagen, was sie wollen. Wir wissen, was Bagdad nicht will, aber wir wissen nicht, was es will.
STANDARD: Ist Bagdad fähig, die Reaktionen auf das Referendum zu kontrollieren – etwa die der Schiitenmilizen? Wird es Gewalt geben? Ala’Aldeen: Die Milizen sind politischen oder religiösen Autoritäten verantwortlich und werden nicht auf Eigeninitiative zur Ge- walt greifen. Wenn es den politischen Willen gibt, Gewalt zu verhindern, dann wird es keine geben. Umgekehrt gilt das auch.
STANDARD: Was werden die Türkei und der Iran tun? Ala’Aldeen: Ich glaube nicht, dass Ankara oder Teheran Interesse daran haben, auf bereits existierende Krisen eine draufzusetzen.
Dlawer Ala’Aldeen: Das Referendum ist eine nationale Angelegenheit über der Parteipolitik. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sie sich auf komplexe Aktionen einigen können. Die Türkei will das Referendum nicht, aber sie wird keine Gewalt anzetteln – sie hat schon genug davon zu Hause und jenseits der Grenzen. Auch für den Iran wäre es ein strategischer Fehler: Er braucht einen stabilen und freundlichen Nachbarn.
STANDARD: Die US-Reaktion? Ala’Aldeen: Auch die USA wissen, was sie nicht wollen, aber nicht, was sie wollen. Sie offerieren keine neuen Ansätze. Dass sie den Unabhängigkeitsprozess verhindern wollen, hat etwas mit der klassischen Haltung von Globalmächten zu tun, die den Status quo erhalten wollen, aber auch mit schlechter Erfahrung, zum Beispiel mit dem Südsudan. Aber vor allem sind ihre Augen, ihre Politik völlig auf den Krieg gegen den „Islamischen Staat“(IS) gerichtet. Das heißt, ihre Gründe sind kurzfristig. Sie wollen es nicht – aber wenn es doch passiert, wird es vielleicht eine Zeitlang kühle Beziehungen geben, die sich aber bald wieder normalisieren werden, einfach weil es notwendig ist.
Die USA haben eine Menge Möglichkeiten, die kurdische Regionalregierung zu beeinflussen, aber sie wissen, dass es sehr gefährlich ist, den Hebel anzusetzen und gegen die Kurden zu verwenden – sie im Stich zu lassen und zu riskieren, dass der IS zurückkommt und der Irak weiter ins Chaos abgleitet.
STANDARD: Die Kurden werden für ihre Entwicklung gelobt – aber es gibt auch viele interne Probleme: zerstrittene Parteien, ein gelähmtes Parlament ... Ala’Aldeen: Die Kurden sind Teil des Nahen Ostens und genauso polarisiert und uneinig wie ihre Nachbarn. Die Geschichte der Selbstverwaltung ist erst 25 Jahre alt. Es gibt keinen starken institutionalisierten politischen Prozess, die Demokratie ist noch schwach. Die Frage ist, ob die Unabhängigkeit darauf warten sollte. Die politische Führung ist zum Schluss gekommen, dass ein Aufschub nichts löst.
STANDARD: Stehen nunmehr alle hinter dem Referendum? Ala’Aldeen: Die Hälfte der kurdischen Parteien war anfangs für eine Verschiebung, weil sie den Zeitpunkt für falsch hielt. Aber jeder wusste: Sobald das Referendum ein Faktum ist, werden alle aufspringen. Es gibt nur eine sehr kleine „Nicht jetzt“-Kampagne. Die meisten werden mit Ja stimmen. Man spürt nunmehr, dass das eine nationale Angelegenheit ist, die über der Parteipolitik steht.
DLAWER ALA’ALDEEN war kurdischer Unterrichtsminister. Der Mediziner ist Gründer des Thinktanks Middle East Research Institute (MERI) in Erbil. pDie Langfassung des Interviews le
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