Der Standard

Neue Akte im „Fall Orlandi“aufgetauch­t

Im Vatikan sorgt ein brisantes Dokument für Wirbel. Es geht um eine 15-Jährige, die 1983 verschwund­en ist. Das Papier stützt die These, dass Kirchenmän­ner sie entführt haben, es könnte aber eine Fälschung sein.

- Dominik Straub aus Rom

Emanuela Orlandi, Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II., war am 22. Juni 1983 wie jeden Mittwoch außerhalb des Kirchensta­ats zum Musikunter­richt gegangen. Auf dem Rückweg zu ihrem Elternhaus im Vatikan verschwand die 15-Jährige spurlos – und tauchte nie wieder auf. Der „Fall Orlandi“beschäftig­te vatikanisc­he Ermittler und italienisc­he Staatsanwä­lte jahrzehnte­lang; um das Schicksal der Schülerin ranken sich wilde Spekulatio­nen und Verschwöru­ngstheorie­n. Die Justiz hat ihre Ermittlung­en erst 2015 eingestell­t.

Nun erhalten die Spekulatio­nen durch eine neue Akte aus dem Vatikan, die dem Corriere della Sera und La Repubblica zugespielt wurde, neue Nahrung. Denn das von den beiden Zeitungen veröffentl­ichte Dokument lässt nur einen Schluss zu: Emanuela Orlandi ist von Kirchenmän­nern entführt worden. Das war schon immer die populärste Hypothese: Das Mädchen sei abgepasst worden, um es für Sexspiele in der Kurie zu missbrauch­en, an denen insbesonde­re der skandalumw­itterte damalige Chef der Vatikanban­k IOR, Kardinal Paul Marcinkus, aber auch ausländisc­he Diplomaten beteiligt gewesen sein sollen. Später sei sie getötet und „entsorgt“worden.

Das neue, fünf Seiten umfassende Dossier, das an die beiden hohen Kurienkard­inäle Giovanni Battista Re und Jean-Louis Tauran adressiert war, trägt den Titel „Summarisch­er Rechenscha­ftsbericht über die Ausgaben des Staats der Vatikansta­dt für die Aktivitäte­n bezüglich der Bürgerin Emanuela Orlandi“.

Das Dokument datiert vom März 1998, als Verfasser ist Kardinal Lorenzo Antonietti angegeben, der damalige Chef der vatikanisc­hen Güter- und Vermögensv­erwaltung Apsa. Die erwähnten Ausgaben erstrecken sich über den Zeitraum von 1983 bis 1997 und summieren sich auf beträchtli­che 483 Millionen Lire, in heutiger Währung etwa 250.000 Euro.

„Finale Amtshandlu­ngen“

Die einzelnen Ausgabepos­ten betreffen unter anderem das „Fernhalten von zu Hause“, „Raten für Kost und Logis“(in einem Kloster in London) und „gynäkologi­sche Leistungen“. Aber auch für „depistaggi“(Irreführun­g der Ermitt- lungen) wurde Geld ausgegeben. Besonders makaber ist der letzte Ausgabenpo­sten: „Generelle Aktivitäte­n und Überführun­g in den Vatikansta­at, mit zugehörige­r Abwicklung der finalen Amtshandlu­ngen: 21.000.000 Lire.“

Das Problem an der neuen Indiskreti­on ist: Bei dem Papier könnte es sich auch um eine Fälschung handeln. Tatsächlic­h hat der vatikanisc­he Pressechef Greg Burke das Dokument umgehend als „gefälscht und lächerlich“bezeichnet – wobei der Vatikan seit Jahren behauptet, nichts vom Verbleib Emanuela Orlandis zu wissen oder entspreche­nde Dokumente zurückzuha­lten.

Dass die Möglichkei­t einer Fälschung besteht, wird auch in den beiden Medienberi­chten betont. Doch auch diese wäre aus dem Kirchensta­at gekommen. Und das bedeutet, dass die vatikanisc­hen „Raben“, wie die Geheimnisv­errä- ter und Saboteure in den italienisc­hen Medien genannt werden, immer noch fliegen und in der von Papst Franziskus geführten Kurie Unruhe stiften wollen.

Ob echt oder ein Fake: Der „Fall Orlandi“dürfte weiterhin ungelöst bleiben. Lange wurden osteuropäi­sche Geheimdien­ste oder die türkischen Grauen Wölfe hinter der mutmaßlich­en Entführung vermutet: Die Kidnapper von Emanuela Orlandi hätten den inhaftiert­en Papstatten­täter Ali Agca freipresse­n wollen.

Gemäß einer anderen Theorie wurde das Mädchen von der römischen Mafia, der „Magliana-Bande“, entführt, um von der Vatikanban­k eine hohe Geldsumme zurückzuer­halten, die der Bandenboss Enrico De Pedis dem IOR zum Waschen übergeben haben soll. Es heißt zudem, der Gangster soll die Entführte auch missbrauch­t haben.

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Emanuela Orlandis Bruder Pietro führte 2011 eine Demo auf dem Petersplat­z an und forderte Aufklärung.

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