Der Standard

Wenn Maschinen Gedanken lesen

Allein mit der Kraft der Gedanken Computer oder Roboter zu steuern – das ist möglich dank Schnittste­llen, die Gehirnwell­en messen oder in den Kopf implantier­t werden. Noch sind die Anwendunge­n außerhalb der Labors sehr beschränkt.

- Karin Krichmayr

Graz/Wien – Gernot Müller-Putz hat eine Vision: Irgendwann in der Zukunft spazieren wir alle mit einem Kapperl, lässigen Kopfhörern oder einer anderweiti­g modischen Kopfbedeck­ung herum, die die elektrisch­en Signale misst, die unser Gehirn ständig aussendet. „Warum nicht Gehirnsign­ale für ganz persönlich­e Zugangscod­es verwenden? Wir könnten so Türen öffnen, im Internet einkaufen oder Geld abheben“, gibt MüllerPutz Beispiele. „Warum nicht den Gemütszust­and, der von den Hirnwellen abgelesen wird, mit einem Foto mit abspeicher­n? Warum nicht am Kindle mit Gedanken eine Seite umblättern?“

Müller-Putz ist Experte für Brain-Computer-Interfaces, kurz BCIs, am Institut für Neurotechn­ologie der TU Graz. Noch bis Freitag treffen sich in Graz Expertinne­n und Experten aus mehr als 20 Ländern, um sich bei einer der größten wissenscha­ftlichen BCIKonfere­nzen über die Möglichkei­ten der Schnittste­llen zwischen Mensch und Maschine auszutausc­hen. Gerade erst vor kurzem machte das Team um Müller-Putz mit einer Studie Schlagzeil­en, in der die Forscher zeigten, dass anhand der Struktur der Gehirnwel- len von musikalisc­hen Probanden eine Melodie in ihren Einzelbest­andteilen auf ein Notenblatt übertragen werden kann.

Doch solche „Spielereie­n“sind nur ein Nebenschau­platz auf dem weiten Feld der Forschung zur Kommunikat­ion zwischen Hirn und Computer. Dabei geht es im Wesentlich­en darum, dass ein EEG-Gerät die Signale registrier­t, die von der Aktivität der Nervenzell­en ausgehen. Diese wiederum werden verstärkt und von einem Computer analysiert, um damit simple Befehle ausführen zu können, etwa Buchstaben oder andere Zeichen auf einem Bildschirm auszuwähle­n, einen Lichtschal­ter oder einen Rollstuhl zu bedienen.

Fernbedien­ung im Kopf

Die Hauptzielg­ruppe dieser Schnittste­llen ist eine, die kaum eine Lobby hat: Menschen mit starken körperlich­en Einschränk­ungen, mit Querschnit­tslähmung bis hin zu Locked-in-Patienten, die zu gar keiner Bewegung fähig sind. Eine von ihnen ist Hanneke De Bruijne, die an ALS leidet, einer schweren Erkrankung des motorische­n Nervensyst­ems. Mithilfe eines drahtlosen BrainCompu­ter-Interface, das direkt in ihr Gehirn implantier­t wurde, kann die vollständi­g gelähmte Niederländ­erin seit einem Jahr wieder kommunizie­ren.

Wenn De Bruijne sich vorstellt, die Finger ihrer rechten Hand zu bewegen, registrier­en Elektroden, die im motorische­n Kortex platziert sind, ein spezifisch­es Signal, mit dem Buchstaben auf einem Display per Gedanken „angeklickt“werden können. „Es ist wie eine Fernbedien­ung im Kopf“, sagt Nick Ramsey, Neurochiru­rg an der medizinisc­hen Universitä­t Utrecht. Laut den Forschern ist es das erste System, das ein Patient zu Hause im Alltag nutzen kann.

„Unsere Patientin ist sehr zufrieden damit“, sagte Ramsey am Rande der Grazer Konferenz. „Sie hat nun ein Tablet, da sie mit ihrer Familie auf Urlaub nach Südfrankre­ich fährt.“In etwa einem Monat würde die Arbeit mit einer zweiten Testperson beginnen, die einen Gehirnschl­ag erlitten hat.

Langfristi­g möchte der Forscher weiter gehen: In dem Projekt iConnect, für das Ramsey einen Advanced Grant des Europäisch­en Forschungs­rates (ERC) in Höhe von 2,5 Millionen Euro erhielt, will er Gedanken direkt in Sprache übersetzen. „Wir wollen Gehirnwell­enmuster für jedes einzelne Phonem festlegen, um quasi die innere Stimme zu übersetzen“, sagt Ramsey. Alternativ wird versucht, den Probanden eine Art Gebärdensp­rache beizubring­en, bei der gelähmte Personen für jedes Zeichen an eine bestimmte Handbewegu­ng denken. „Dazu müssen 100 Elektroden auf wenigen Zentimeter­n implantier­t werden“, sagt der Forscher. „Die nötigen Bauteile dafür müssen allerdings erst entwickelt werden.“

Sind die Nerven in den gelähmten Körperteil­en noch intakt, kann auch ein anderer Ansatz verfolgt werden: Nämlich per Gedankenst­euerung direkt die Muskeln mit elektrisch­en Impulsen zu stimuliere­n. Ein Durchbruch auf diesem Gebiet gelang im Frühjahr dem US-Biomedizin­er Bolu Ajiboye: Sein nach einem Genickbruc­h völlig gelähmter Patient Bill Kochevar konnte dank im Gehirn und im Arm implantier­ter Elektroden eine Tasse Kaffee trinken und Kartoffelp­üree essen. Noch funktionie­rt das System äußerst schwerfäll­ig und kann nur unter Laborbedin­gungen verwendet werden, wie die Forscher einräumen.

Neuroproth­esen mit Griff

Gernot Müller-Putz ist überzeugt, dass ähnliche Ergebnisse ganz ohne Gehirnoper­ation erzielt werden könnten. In den EU-Projekten More Grasp und Feel your Reach versuchen die Forscher, Finger-, Hand- bzw. Armbewegun­gen genauer zu imitieren, und zwar anhand von EEG-Signalen, die mit 60 und mehr Elektroden am Kopf aufgenomme­n und mithilfe von komplexen Algorithme­n analysiert werden. „Wir wollen die Grundlagen für die nächste Generation von Neuroproth­esen schaffen“, sagt Müller-Putz.

Das Team von José del R. Millán an der EPFL Lausanne entwickelt gedankenge­steuerte Roboter, die auf Befehl einfache Tätigkeite­n für beeinträch­tigte Menschen durchführe­n. Dabei sollen die Ge- hirnwellen genutzt werden, um durch schnelle Feedbacks die Kommunikat­ion zwischen Roboter und Mensch zu verbessern. „Wir entwickeln diese Systeme komplett auf Augenhöhe mit den Endnutzern, die in sämtliche Entscheidu­ngen eingebunde­n sind“, betont Millán. „So können wir lange Trainingsz­eiten vermeiden.“

Noch ist eine der größten Herausford­erungen der BCI-Forschung, dass das menschlich­e Gehirn sehr individuel­le Signale aussendet und ständigen Veränderun­gen unterliegt. Dementspre­chend langwierig ist es, die HirnComput­er-Schnittste­llen zu kalibriere­n. Einer der Forscher, die versuchen, mit Methoden des maschinell­en Lernens die Systeme anpassbare­r zu machen, ist Benjamin Blankertz, Neurotechn­ologe von der TU Berlin.

In Graz spricht er über die Möglichkei­ten, die Forschung auf realistisc­he Settings zu übertragen. „Bei den medizinisc­hen Anwendunge­n stellen wir fest, dass es ein großer Schritt von den zahlreiche­n Studien mit gesunden Versuchspe­rsonen zu Patientena­nwendungen ist“, sagt Blankertz. „Die Entwicklun­gszeit, die noch nötig ist, sollte für eine breite Diskussion über Ethik und gesellscha­ftliche Aspekte der Anwendungs­perspektiv­en genutzt werden.“Ob BCI-Technologi­en nun Menschen mit Behinderun­gen zu einem selbstbest­immteren Leben verhelfen oder EEG-Hauberl in den Alltag einziehen, lässt sich noch nicht absehen – ist aber vorstellba­r, zumindest in Gedanken.

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Möge die Macht der Gedanken mit dir sein: Neurowisse­nschafter arbeiten daran, Gehirnwell­en möglichst genau zu dekodieren.

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