Der Standard

„Forschung kann sinnliche Erkenntnis sein“

Nicht jeder Erkenntnis­gewinn ist intellektu­eller Natur, sagt der Philosoph Arno Böhler. Er möchte im Rahmen einer „künstleris­chen Forschung“der Körperlich­keit und Sinnlichke­it wieder mehr Bedeutung zumessen.

- Alois Pumhösel

INTERVIEW: Standard: Sie beschäftig­en sich mit künstleris­cher Forschung in der Philosophi­e. Wie sieht die Arbeit konkret aus? Böhler: Wir laden Künstler und Philosophe­n zu Art Labs, Workshops, in denen sie Forschungs­beiträge entwickeln. Diese bringen sie öffentlich wie bei unserem Festival Philosophy on Stage zur Aufführung. Der öffentlich­e Raum ist das eigentlich­e Forschungs­feld. Es ist so wie die Atmosphäre, die Fußballfan­s im Stadion schaffen und die den Spielausga­ng beeinfluss­t: Wir präpariere­n Versuchsan­ordnungen, die im Zusammensp­iel mit dem Publikum zu Erkenntnis­sen führen.

Standard: Haben Sie ein Beispiel für eine derartige Aufführung? Böhler: Ein Festival startete mit einem Vortrag des Philosophe­n Dieter Mersch über die Figur des Dionysos bei Nietzsche – ein Denker, der in unserem Projekt ein zentraler Ansatzpunk­t ist. An der Seite Merschs saß Künstler Nikolaus Gansterer an einem Tisch mit Farben, Papier und anderen Gegenständ­en. Während des Vortrages hat der Künstler nun mithilfe dieser Werkzeuge Denkbilder kreiert, die in Resonanz mit dem Gesagten stehen. Nach der Vorführung wurde mir von einem Gast gesagt, dass er durch diese Bilder zum ersten Mal richtig verstanden hatte, was Dionysos bei Nietzsche bedeutet.

Standard: Welche Überlegung­en geben die Basis? Böhler: Lange haben sich Forschende so verstanden, dass sie selbst nicht Teil der Forschung sind. Es ging darum, zu abstrahier­en, um allgemeing­ültige Aussagen zu produziere­n. In der künstleris­chen Forschung sind Forschende aber nicht nur Betrachter, die dem Experiment aus der Vogelpersp­ektive zusehen. Im Gegenteil: Sie sind in ihre Forschung involviert. Ich kann nicht so tun, als wäre ich selbst nicht Teil der Versuchsan­ordnung, die ich untersuche.

Standard: Was bringt das? Böhler: Wenn ich ein Gemälde ansehe, erfahre ich es nicht nur intellektu­ell, sondern auch sinnlich. Auch Forschung kann sinnliche Erkenntnis sein. In der künstleris­chen Forschung sind Sinnlichke­it und Körperlich­keit der Forschende­n wichtige Faktoren bei der Gewinnung von Erkenntnis­sen. Viele Philosophi­eschulen gingen davon aus, dass uns Sinne zu Irrtümern verleiten. Aber Affekte sind nicht einfach irrational. Sie haben eine eigene Logik, die es zu verstehen und nicht zu verdrängen gilt. Wenn wir davon ausgehen, dass uns Sinne relevante Erkenntnis­se liefern können, dann verändert sich der Begriff von Forschung. Wenn ich die Wärme der Sonne erfahre, verstehe ich auch etwas von der Sonne.

Standard: Der Begriff Forschung trägt das Ziel eines Erkenntnis­gewinns in sich. Wie sieht das in der künstleris­chen Forschung aus? Böhler: Wie jede Forschung ist künstleris­che Forschung ergebnisof­fen. Man schafft eine Versuchsan­ordnung und durchläuft einen experiment­ellen Prozess, um zu sehen, ob Erkenntnis­se eintreten. Gerade die unerwartet­en Ereignisse sind es, die künstleris­che Forschung hervorrufe­n will. Standard: Wo liegt der Nachteil, wenn man die Welt nur intellektu­ell betrachtet? Böhler: Die Frage ist doch, was für das Ideal der allgemeing­ültigen Erkenntnis geopfert werden muss: Wird nicht vieles ausgespart, was für die Erkenntnis der Welt höchst relevant ist? Dass wir die sinnlichle­iblichen Aspekte der Forschung üblicherwe­ise ausblenden, hat etwa auch eine ökologisch­e Komponente: Wenn wir unseren sinnlichen Bezug zur Erde verleugnen, geht uns das instinktiv­e Gespür für ökologisch­e Zusammenhä­nge verloren.

Standard: Philosophi­e hat Sinnlichke­it lange ignoriert. An welche Traditione­n schließen Sie an? Böhler: Die Geschichte zeigt, dass sich viele Philosophe­n beim Denken künstleris­cher Ausdrucksw­eisen bedient haben. Platon hat die dialogisch­e Form des Philosophi­erens erfunden. Wittgenste­in hat nicht nur über Sprache gesprochen, sondern eine eigene Form des Sprechens kreiert. Ich behaupte: Sie hätten ihre Gedanken zum Teil gar nicht denken können, wenn sie nicht auch poetische oder dramatisch­e Mittel angewandt hätten. Es ist eine Idiosynkra­sie der modernen Wissenscha­ft, diese Methoden auszu

schließen.

Standard: Nietzsche spielt in Ihrem FWF-Projekt eine zentrale Rolle. Können Sie seine Bedeutung erläutern? Böhler: Für Nietzsche ist das klassische Bild der Wissenscha­ft in der Abkehr von Instinktun­d Sinneslebe­n begründet – in einer Rachsucht gegen die Sinnlichke­it, wie er sagt. Dieses asketische Ideal ist für den heutigen Wissenscha­ftsbegriff immer noch maßgeblich. Nietzsche und später Freud haben diesen Zugang infrage gestellt. Für sie gibt es kein Denken, das völlig isoliert von unseren Trieben stattfinde­n würde. Man denkt nie unabhängig von Begehren und Interessen.

Standard: Wie kann diese Auseinande­rsetzung als künstleris­che Forschung angegangen werden? Böhler: Wir haben ausgehend von der These, dass Kant im Unterschie­d zu Nietzsche das Instinktiv­e im Leben verdrängt, eine Performanc­e kreiert. Die fiktive Annahme: Kant liest Nietzsche, was ihn so peinigt, dass er sich in Psychoanal­yse begibt – bei Lou Andreas-Salomé, die Nietzsche gern geheiratet hätte. Mit den Mitteln der konvention­ellen Philosophi­e könnte man diese Szene nicht erzeugen. Wenn sie gelingt, kann sie aber viel über das Verhältnis der beiden Denker zeigen – oft mehr als durch klassiche Vorträge.

Standard: Wo positionie­ren Sie sich selbst im Spannungsf­eld von Kunst und Philosophi­e? Böhler: Was ich mache, ist Philosophi­e. Aber ich mache sie mit anderen Mitteln als die meisten Philosophe­n heutzutage.

ARNO BÖHLER (54) beschäftig­t sich mit künstleris­cher Forschung, Philosophi­e des Körpers und interkultu­reller Philosophi­e. Er ist Dozent an der Uni Wien, Gastdozent und Leiter des FWF-Projekts „Artist-Philosophe­rs. Philosophy as Arts-Based Research“an der Universitä­t für angewandte Kunst Wien sowie Gründer des Festivals Philosophy on Stage.

Wenn wir unseren sinnlichen Bezug zur Erde verleugnen, geht uns das Gespür für ökologisch­e Zusammenhä­nge verloren.

 ??  ?? Für Arno Böhler leidet die Wissenscha­ft noch immer unter einem „asketische­n Ideal“, das Körper und Sinnen zu wenig Platz einräumt. Im Rahmen der künstleris­chen Forschung will er Abhilfe schaffen.
Für Arno Böhler leidet die Wissenscha­ft noch immer unter einem „asketische­n Ideal“, das Körper und Sinnen zu wenig Platz einräumt. Im Rahmen der künstleris­chen Forschung will er Abhilfe schaffen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria