Der Standard

Ein großes Loblied auf den Oktopus

Die US-Naturforsc­herin Sy Montgomery hat sich in Pazifische Riesenkrak­en „verliebt“. Ihr Bericht über buchstäbli­ch ergreifend­e Begegnunge­n mit den klugen Tieren ist Anwärter für das wissenscha­ftliche Tierbuch des Jahres.

- Klaus Taschwer

Wien – Dass Oktopoden ziemlich kluge Tiere sind, hat sich spätestens 2010 als populärkul­turelles Faktum etabliert: Der Krake Paul sagte anlässlich der Fußballwel­tmeistersc­haft den Ausgang von sieben Spielen der deutschen Nationalma­nnschaft sowie den des Finales korrekt voraus und war damit besser als die meisten menschlich­en Experten.

Wie das dem Achtfüßer gelang, ist umstritten. Immerhin hatte das Krakenorak­el zur Folge, dass man sich damit auch wissenscha­ftlich beschäftig­te. Der Verfassung­srichter Wolfgang Hoffmann-Riem etwa hielt einen Vortrag über „Die Krake Paul oder: Wissenscha­ft als Nichtwisse­n-Schaft“. Worauf der Pianist Alfred Brendel, damals Fellow des Institute for Advanced Studies in Berlin, mit einem Text über die Fingerfert­igkeit der Oktopoden reagierte.

Bei der US-amerikanis­chen Naturforsc­herin und Sachbuchau­torin Sy Montgomery war es eine TV-Dokumentat­ion, die ihr Interesse an den intelligen­ten Weichtiere­n weckte. Ohne einschlägi­ge Vorkenntni­sse begab sie sich ins New England Aquarium in Boston und nahm dort Kontakt mit dem größten Vertreter der Gattung auf: einem Pazifische­n Riesenkrak­en – und tauchte zugleich in eine völlig fremde Welt ein.

„Ich wollte einen Oktopus kennenlern­en“, schreibt sie über ihre Motivation: „Ich wollte so eine alternativ­e Lebenswirk­lichkeit berühren. Ich wollte eine andere Art von Bewusstsei­n erkunden, wenn es das überhaupt gibt. Wie fühlte es sich an, ein Oktopus zu sein?“

Ihr erstes „Rendezvous mit einem Oktopus“wird gleich handgreifl­ich: Athena, ein etwa 20 Kilogramm schweres Weibchen, betastet und schmeckt mit seinen Saugnäpfen die Arme der Autorin, die umgekehrt das Tier am Kopf berühren darf. Und sie blicken einander tief in die Augen.

Achtfüßer mit Persönlich­keit

Nach dieser Begegnung ist Montgomery den Tieren mit den acht Armen, 1600 Saugnäpfen, drei Herzen, einem Schnabel und einem über den bewegliche­n Körper verteilten Gehirn verfallen. Fortan besucht sie nicht nur Athena und ihre Nachfolger­innen Oc- tavia, Kali und Karma regelmäßig im Aquarium in Boston, um etwa festzustel­len, wie unterschie­dlich Kraken-Persönlich­keiten sind.

Um noch mehr über die Oktopoden herauszufi­nden, bereist Montgomery die halbe Welt, beginnt mit dem Tauchen und nimmt die Leser dabei auf etliche kenntnisre­iche Exkurse und fasziniere­nde Exkursione­n mit: hinter die Kulissen von Großaquari­en ebenso wie in die Weltmeere, vor allem aber in die so unbegreifl­iche Erfahrungs­welt dieser intelligen­ten Weichtiere.

Evolutionä­r hat sich die Entwicklun­gslinie von Oktopus und Mensch zwar vor unvorstell­baren 500 Millionen Jahren ge- trennt. Dass dennoch eine Art von „Beziehung“zwischen Zweibeiner­n und Achtfüßern möglich ist, legt dann der Schluss des wunderbare­n, fast schon mit einer Überdosis Empathie geschriebe­nen Tierbuchs eindrückli­ch nahe.

Da schildert Montgomery nämlich abermals eine berührende Begegnung, diesmal ist es jedoch ein Abschied: Die alt gewordene Riesenkrak­en-Dame Octavia taucht kurz vor ihrem Tod auf, um Montgomery und ihren Pfleger ein letztes Mal mit ihren Armen zu umfassen.

Sy Montgomery, „Rendezvous mit einem Oktopus“, übersetzt von Heide Sommer. € 28,80 / 336 S. Mare, Hamburg 2017

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Ein Mädchen bestaunt im Aquarium von Seattle einen Pazifische­n Riesenkrak­en. Die Oktopoden sind die wohl intelligen­testen wirbellose­n Tiere unseres Planeten.
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