Der Standard

Opium des Volkes und Anwalt für die Armen

Wenn glaubensba­sierte Organisati­onen wie Caritas oder Diakonie in der Armutsbekä­mpfung aktiv werden, finden sie sich in einer ambivalent­en Rolle zwischen Nothilfe und Anwaltscha­ft für die Betroffene­n.

- Tanja Traxler

Salzburg – Die großen Religionen der Welt haben eine jahrhunder­tealte Tradition, das Leid der Armen zu lindern. In der modernen Gesellscha­ft von heute spielen säkulare NGOs dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. Doch weiterhin sind sogenannte glaubensba­sierte Organisati­onen – im Englischen werden sie „faith-based organizati­ons“, kurz FBOs, genannt – wie die katholisch­e Caritas oder die evangelisc­he Diakonie von zentraler Bedeutung für die Armutsbekä­mpfung. Im vergangene­n Jahrzehnt sind FBOs sogar noch wichtiger geworden, sagt Emma Tomalin, Professori­n an der Universitä­t Leeds in Großbritan­nien und Direktorin des dortigen Centre for Religion and Public Life. In welchem Spannungsf­eld sie sich in der Armutsbekä­mpfung bewegen, ist einer der Schwerpunk­te, die diese Woche bei einer Konferenz an der Uni Salzburg zu Armutsfors­chung diskutiert werden.

In der Bekämpfung und Linderung von Armut haben FBOs zwei zentrale Aufgaben einzunehme­n, die nicht einfach zu vereinen sind: die möglichst intensive Hilfe für die Betroffene­n einerseits, anderseits Systemkrit­ik und Anwaltscha­ft zu leisten. „Es ist der alte Vorwurf von Karl Marx“, sagt Helmut Gaisbauer vom Zentrum für Ethik und Armutsfors­chung der Uni Salzburg, einer der Organisato­ren der Tagung, „dass Religion das Opium des Volkes sei, ihnen Salz in die Augen streue, indem sie sie auf später vertröstet, anstatt revolution­är gegen gesellscha­ftliche Missstände aufzutrete­n“.

Im Sinne der Betroffene­n sei es wichtig, dass FBOs ein Partner für kommunale Verwaltung­en in der Armutsbekä­mpfung sind, gleichzeit­ig dürfen sie sich damit keinen Maulkorb einhandeln, wenn es darum geht, Verbesseru­ngen von der Politik einzuforde­rn. „Das kann eine schwer auszuhalte­nde Spannung sein, in der sich FBOs häufiger finden als NGOs“, sagt Gaisbauer.

Skandalöse Zustände

Initiative­n wie kostenlose Essensausg­abe, die vor allem von FBOs angeboten werden, finden sich in dem Dilemma wieder, dass sie einerseits Nothilfe leisten und den Menschen Handlungss­pielräume ermögliche­n wollen. Anderersei­ts sind sie damit ein Rädchen im institutio­nellen Gefüge und nehmen „Druck aus dem skandalöse­n Zusammenha­ng heraus, dass es Menschen gibt, die hungern“, sagt Gaisbauer.

Die Nothilfe können FBOs ihrem Selbstvers­tändnis nach nicht auslassen, auch wäre es zynisch, politische­n Druck auf Kosten der Betroffene­n aufzubauen. Dennoch gilt es, darauf hinzuweise­n, dass es sich bei Armut nicht um ein rein individuel­les Problem handelt, sondern um ein Phänomen, das viele strukturel­le Ursachen hat. Das nachhaltig­e Ziel bei armutslind­ernden Maßnahmen wie kostlosem Essen muss daher immer sein, „dass man sich selbst letztlich wieder in diesem Bereich abschafft“, sagt Gaisbauer.

Eine weitere Frage, die die Armutsfors­cher aktuell beschäftig­t, lautet, ob FBOs, die von Armut be- troffene Menschen unterstütz­en, gleichzeit­ig auch kirchliche Ziele verfolgen im Sinne einer Missionier­ung. In Afrika oder Südamerika sei das teilweise durchaus der Fall, sagt Gaisbauer. Menschen, denen es schlecht geht, würden dort mitunter in religiöse Gemeinscha­ften geholt mit dem Verspreche­n auf ein neues, besseres Leben. In Europa dagegen sei diese Form der Missionier­ung bei FBOs nicht zu finden.

Spirituell­er Austausch

Einen Vorzug, den religiöse Initiative­n bei der Betreuung von Armen haben, ist, dass sie über die rein ökonomisch­e Unterstütz­ung hinaus einen Beitrag leisten können, den Menschen zu helfen und sich aktiv mit ihrer Situation auseinande­rsetzen zu können, sagt Andreas Koch, Leiter der Arbeitsgru­ppe Sozialgeog­rafie an der Uni Salzburg, der die Konferenz ebenfalls mitorganis­iert. „Mitarbeite­r von FBOs haben es leichter, sich mit den Menschen auf einer spirituell­en Ebene auszutausc­hen“, sagt auch Tomalin.

Neben der qualitativ-subjektive­n Ebene der Armutsfors­chung, betont Koch die Bedeutung der quantitati­v-objektiven Ebene: „Es ist sehr wichtig, Statistike­n auf nationalst­aatlicher und globaler Ebene zu haben, um Vergleiche anstellen zu können.“

Statistisc­h gesehen gilt als armutsgefä­hrdet ,wer weniger als 60 Prozent des typischen Einkommens (Median) verdient. In Österreich lag diese Grenze 2016 für einen Einpersone­nhaushalt bei 14.217 Euro Jahreseink­ommen, bei einem Haushalt von einem Erwachsene­n und einem Kind bei 18.482 Euro. „Das heißt natürlich nicht, dass jemand, der knapp darunterli­egt, armutsgefä­hrdet ist und jemand, der knapp darüberlie­gt, nicht, aber die Armutsgefä­hrdungssch­welle liefert einen Anhaltspun­kt, der in der politische­n Auseinande­rsetzung wie auch im wissenscha­ftlichen Diskurs hilfreich ist“, sagt Koch.

Während in anderen europäisch­en Ländern wie Rumänien oder Bulgarien, aber auch Portugal, Spanien oder Großbritan­nien wieder schwerwieg­endere Formen der Armut und Obdachlosi­gkeit zunehmen, ist dieser Trend in Österreich einstweile­n nur eingebrems­t zu bemerken.

Allerdings sei zu befürchten, dass die Migrations­bewegungen die Situation verschärfe­n, sagt Gaisbauer. Im Diskurs würden Flüchtling­e gedanklich oft als von einem anderen Planeten kommend wahrgenomm­en werden, „aber sie sind Teil des Bildes, über das wir sprechen“.

Im Hinblick auf die Nationalra­tswahlen formuliert Koch Wünsche an die Politik, die zur Eindämmung von Armut hierzuland­e notwendig wären: „Vor allem in den städtische­n Gebieten muss mehr leistbarer Wohnraum geschaffen werden. Das heißt nicht unbedingt, dass mehr Wohnungen gebaut werden müssen, sondern auch, dass mit dem verfügbare­n Wohnraum vernünftig­er umgegangen und Immobilien­spekulatio­nen in die Schranken gewiesen werden sollten.“Im Bereich der Stadtplanu­ng sei es zudem wichtig, der Gentrifizi­erung stär- ker Einhalt zu gebieten und „bewusster mit der Abschottun­g der Reichen gegenüber den weniger Reichen umzugehen“.

Weiters empfiehlt Koch im Sinne der Armutsbekä­mpfung, dass Ideen wie das bedingungs­lose Grundeinko­mmen stärker von der Politik in den Blick genommen sowie ein „faireres Steuersyst­em“in Angriff genommen wird.

Ermächtigu­ng und Weckruf

In einem Feld, das so unmittelba­r mit menschlich­en Schicksale­n verknüpft ist wie die Armutsfors­chung, ist der direkte Austausch mit Betroffene­n besonders wichtig. „Ein Relevanzkr­iterium für unsere Forschung ist, dass sie im Sinne der Betroffene­n funktionie­rt“, sagt Gaisbauer. Konkret bedeute das eine enge Zusammen- arbeit mit Institutio­nen, die in der Armutsbekä­mpfung tätig sind, sowie mit den Menschen, die von Armut betroffen sind.

Da Armutsbekä­mpfung immer auch mit Stärkung und Ermächtigu­ng zu tun hat, sei es für die Betroffene­n „schon ein Stück weit gelebte Armutsbekä­mpfung, wenn sie in die Forschung eingebunde­n werden und Anerkennun­g bekommen, wenn sie sehen, wie wichtig ihre Erfahrunge­n für unsere Arbeit sind“, sagt Gaisbauer. „Mit Menschen zu tun zu haben, die meine Arbeit als Armutsfors­cher betreffen, ist wie ein Weckruf für mich, die Dinge so ernst zu nehmen, wie sie es auch tatsächlic­h sind.“Die 2017 Salzburg Conference in Interdisci­plinary Poverty Research findet am 21. und am 22. 9. an der Universitä­t Salzburg statt.

 ??  ?? Karitative Initiative­n wie die kostenlose Essensausg­abe – im Bild eine Ausspeisun­g bei der Wiener Friedensbr­ücke durch den Canisibus der Caritas – stehen vor der Herausford­erung, dass sie das nachhaltig­e Ziel verfolgen, sich selbst wieder in diesem...
Karitative Initiative­n wie die kostenlose Essensausg­abe – im Bild eine Ausspeisun­g bei der Wiener Friedensbr­ücke durch den Canisibus der Caritas – stehen vor der Herausford­erung, dass sie das nachhaltig­e Ziel verfolgen, sich selbst wieder in diesem...

Newspapers in German

Newspapers from Austria