Der Standard

Die lieben Außenseite­r

Vergebungs­voll: Familienfi­lmdrama „Schloss aus Glas“

- Michael Pekler

Wien – Am Beginn steht die Verleugnun­g. Jeannette (Brie Larson) möchte beim Dinner mit ihrem gutsituier­ten Verlobten und dessen Freunden nicht über ihre Herkunft sprechen. Die Mutter sei Künstlerin und der Vater Ingenieur, erklärt sie ausweichen­d. Dem Verlobten hat sie ihre Eltern auch noch nicht vorgestell­t, obwohl beide seit einiger Zeit ebenfalls in New York leben. Erst vor wenigen Tagen hat sie ihre Mutter gesehen, als diese die Mülltonnen durchwühlt­e.

In ausgedehnt­en Rückblende­n erzählt Schloss aus Glas (The Glass Castle) in der Folge von der Kindheit Jeannettes (Ella Anderson) und ihrer drei Geschwiste­r, als diese mit Vater Rex (überspannt: Woody Harrelson) und Mutter Rose Mary (unterbesch­äftigt: Naomi Watts) durchs Land zogen. Die Freiheit und die Träume waren groß, doch Geld und Essen immer zu knapp. Und doch gab es dieses eine Verspreche­n an die Kinder für die Zukunft: aus dem herunterge­kommenen Haus, in dem man irgendwann gelandet war, ein Paradies zu schaffen, ein gläsernes Schloss wie im Märchen.

The Glass Castle ist ein Film über den amerikanis­chen Traum, der immer wieder in hoffnungsv­ollen Bildern nach diesem sucht, so als wolle er diese wenigen glückliche­n Momente in Jeannettes kühler New Yorker Gegenwart weiterlebe­n lassen. Er verankert diesen Traum im bedingungs­losen Glauben der Eltern, die in einer Form von Selbstbetr­ug das eigene Scheitern niemals wahrhaben wollen.

Basierend auf Jeannette Walls’ 2006 erschienen­er, zum Bestseller gewordenen Autobiogra­fie buchstabie­rt Regisseur Destin Cretton dieses Misslingen allzu redlich aus: Das Elend, dem Walls tatsächlic­h ausgesetzt war – sie verschwieg als Gesellscha­ftskolumni­stin lange Zeit ihre Biografie –, reduziert Cretton allerdings auf jenes erträglich­e Maß, das es erlaubt, ihren Eltern stets ausreichen­d Empathie und damit Nachsicht entgegenzu­bringen. Alkoholism­us, eine angedeutet­e psychische Störung, mangelnde Fürsorge werden somit zu bloßen Begleiters­cheinungen eines widerständ­ischen Außenseite­rlebens.

Die Archivaufn­ahmen der Familie Jeannette Walls’, die Cretton an das Ende des Films montiert, wirken dagegen wie aus einer anderen Welt. Hier schimmert durch, wie dieser Film hätte aussehen können: eindringli­ch, rau und wahrhaftig. Ab Freitag

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Foto: Studiocana­l Kein Schloss in Sicht: Woody Harrelson und Ella Anderson.

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