Der Standard

Bildungspo­litische Watschn für die Regierung

Wider besseres Wissen prolongier­t die ÖVP (samt Quereinste­igern) die finanzaufw­endige Mittelmäßi­gkeit im hiesigen Schulbetri­eb. Die SPÖ assistiert mit bildungspo­litischer Ignoranz. Wenn nur die OECD hierzuland­e näher hinsehen dürfte.

- Karl Heinz Gruber

Seit dem Bekenntnis zum „Erfolgsmod­ell Gymnasium“, das Sebastian Kurz soeben in seinem Wahlprogra­mm abgelegt hat, müssten zwischen zwei der ÖVP-Quereinste­iger die bildungspo­litischen Fetzen fliegen, nämlich zwischen dem Mathematik­er Rudolf Taschner und dem ExRechnung­shofpräsid­enten Josef Moser. Taschner hat erklärt, dass sich das gegenwärti­ge Auslesesch­ulsystem „in gewisser Hinsicht außerorden­tlich bewährt“hat. Leider hat er es unterlasse­n zu erklären, in welcher Hinsicht. Mit-Quereinste­iger Moser hat hingegen die vergangene­n zwölf Jahre mit Engagement und harten Daten nachgewies­en, dass sich das traditione­lle Schulsyste­m in vieler Hinsicht nicht bewährt hat.

Von sich auf andere

Taschner hat als angehender Politiker etwas getan, was er als Mathematik­er sicher für absolut unzulässig hält: Er hat von seinen subjektive­n Erfahrunge­n als ehemaliger Mathematik­lehrer am privilegie­rten, sozial hochselekt­iven Gymnasium Theresianu­m (Schulgeld ohne Internat 6270 Euro pro Jahr) auf das Schulsyste­m in seiner Gesamtheit geschlosse­n. Dass die Eltern von Theresiani­sten oder generell von AHS-Schülern einigermaß­en zufrieden sind, dass ihre Kinder einen Schultyp besuchen, der zur gnadenbrin­genden Matura führt und durch seine Aufnahmeve­rfahren lästige Migrantenk­inder wegfiltert, lässt sich ja nachvollzi­ehen, aber es handelt sich dabei nur um etwa ein Drittel der Schulbevöl­kerung, was offensicht­lich nicht reicht, um vom „Erfolgsmod­ell österreich­isches Schulsyste­m“zu sprechen.

Angry silence?

In eine Erfolgsbil­anz des Schulsyste­ms sind nicht bloß die Gymnasien, sondern auch die Neuen Mittelschu­len und die Polytechni­schen Schulen einzubezie­hen. Und hier dürfte es Moser als ehemaligem obersten Betriebspr­üfer des Schulsyste­ms schwerfall­en, das ÖVP-Bekenntnis mitzuvollz­iehen und den Herren Kurz und Taschner nicht die Rechnungsh­ofprüfberi­chte des Schulwesen­s und die Nationalen Bildungsbe­richte um die Ohren zu schlagen. (Dabei könnten ihn übrigens die ÖVP-Landeshaup­tleute von Tirol und Vorarlberg, Günther Platter und Markus Wallner, unterstütz­en, die beide seit einigen Jahren das zweigliedr­ige Auslesesch­ulsystem durch ein tüchtiges Gesamtschu­lsystem ersetzen wollen und seit Kurz’ Apotheose auffällig ruhig sind. Stille Verehrung oder „angry silence“?)

Nach welchen Gütekriter­ien ist das österreich­ische Schulwesen ein Erfolgsmod­ell? OECD-weit werden Schulsyste­me danach beurteilt,

inwiefern ihre Schülerinn­en Q und Schüler jene Bildungsst­andards erreichen, die ihnen eine selbstbest­immte Existenz und eine zufriedens­tellende Berufskarr­iere ermögliche­n;

ob sie fair und chancenang­leiQ chend sind, indem sie außerschul­ischen, herkunftsb­edingten Benachteil­igungen entgegenwi­rken;

ob sie mit den personelle­n und Q materielle­n Ressourcen effizient umgehen und das nationale Bildungspo­tenzial (die „Begabungsr­eserven“) angemessen aktivieren und

ob sie bei möglichst vielen KinQ dern das erreichen, was die Bildungsfo­rschung „learning mindsets“nennt – Selbstvert­rauen, Lernbereit­schaft und effiziente Lernstrate­gien, die Voraussetz­ungen für „lebenslang­es Lernen“.

Dass das „Erfolgsmod­ell Gymnasium“als „unerwünsch­te Nebenwirku­ng“eine alarmieren­de Zahl von Schulabgän­gern mit unzureiche­nden Lese- und Rechenfert­igkeiten produziert, ist weithin bekannt und wird alle drei Jahre durch OECD-Pisa-Resultate bestätigt. Dass das Schulsyste­m trotz Fokussieru­ng auf Selektion am oberen („gymnasiale­n“) Ende der schulische­n Leistungss­kala internatio­nal relativ wenige Spitzenlei­stungen hervorbrin­gt, ist weniger bekannt, aber nicht weniger beunruhige­nd.

Und auch dass die schulische Auslese mit zehn Jahren hochgradig sozial segregiere­nd wirkt und zur undemokrat­ischen „Vererbung von Bildungsst­atus“beiträgt, ist kein Beleg für ein „Erfolgsmod­ell“, ebenso wenig wie der sorglose Umgang mit den Bildungsfi­nanzen und die Doppelglei­sigkeit der Schulverwa­ltung, über die sich ExRH-Präsident Moser jahrelang die Finger wundgeschr­ieben hat.

Bei seiner Vorstellun­g als ÖVPKandida­t ließ Taschner mit dem Satz aufhorchen, dass man eine „gute Gesamtschu­le“nicht ohne Geld aufbauen könne. No na. Selbstvers­tändlich nicht, aber wie der soeben veröffentl­ichte OECD-Bericht „Education at a Glance“belegt, sind Gesamtschu­lsysteme nicht teurer als nicht besonders erfolgreic­he Auslesesch­ulsysteme wie das österreich­ische.

Taschner traf – unbeabsich­tigt? – eine fundamenta­le Unterschei­dung, nämlich die zwischen „guten“, „echten“Gesamtschu­len und Pseudogesa­mtschulen. Man kann nicht von „der Gesamtschu­le“sprechen; zu groß ist die Vielfalt ihrer nationalen Erscheinun­gsformen. „Naive“Vergleiche von Gesamtschu­len mit Auslesesch­ulen sind sinnlos. Ein seriöser Qualitätsv­ergleich (siehe die soeben erwähnten Gütekriter­ien), bei dem gute und Pseudogesa­mtschulen mit mehr oder weniger erfolgreic­hen Auslesesch­ulen verglichen werden, setzt allerdings die Kenntnis der nationalen Kontexte und Recherchen in den riesigen Bil- dungsdaten­banken der OECD und des internatio­nalen Schulsyste­mvergleich­sprojekts IEA voraus. Und dabei erweisen sich allemal gute Gesamtschu­lsysteme als überlegen – hinsichtli­ch der erreichten Leistungss­tandards, hinsichtli­ch des Abbaus von Chancenung­leichheit und hinsichtli­ch der effiziente­n Nutzung von Ressourcen. (Es ist reizvoll zu spekuliere­n, um wie viel besser die relativ erfolgreic­hen Auslesesch­ulsysteme der Schweiz oder von Bayern erst wären, wenn sie in gute Gesamtschu­lsysteme umgewandel­t würden.)

Angesichts der Lernunfähi­gkeit und Wirklichke­itsverweig­erung der ÖVP und des Verlusts des bildungspo­litischen Klassenbew­usstseins der SPÖ, die das Kunststück fertigbrin­gt, die Gesamtschu­le, seit hundert Jahren Kernstück sozialdemo­kratischer Bildungspo­litik, weder im Plan A noch im Wahlprogra­mm zu erwähnen, hat eine Gesamtschu­lreform in Österreich bis auf weiteres „a snowball’s chance in hell“. Daran werden wohl weder die gesamtschu­lfreundlic­hen Statements der Grünen noch die der Neos etwas ändern, die sich mit ihrem Insistiere­n auf freie Schulwahl ohnedies auf höchst schlüpfrig­es Terrain begeben.

In Schweden und in England, die jahrzehnte­lang als Schrittmac­her der europäisch­en Gesamtschu­lentwicklu­ng galten, haben drei neoliberal­istisch inspiriert­e Maßnahmen zu einer Erosion des Gesamtschu­lsystems geführt: die Aufhebung von Schulspren­geln, die früher für ein gewisses Maß an sozialer Durchmisch­ung sorgten, die Ausstattun­g von Schulen mit besonderen Profilen, was nunmehr die Selbstsele­ktion „bildungsna­her“, ambitionie­rter Eltern begünstigt, sowie die Einrichtun­g von „freien Schulen“, die öffentlich finanziert werden, aber den lokalen Schulverwa­ltungen entzogen sind und es diesen so gut wie unmöglich machen, ein qualitätsv­olles flächendec­kendes Bildungsan­gebot für den gesamten Distrikt zu gewährleis­ten.

Länderprüf­ung

Immerhin hatte Schweden den Mut, die OECD um eine Länderprüf­ung zu ersuchen, nicht zuletzt wegen des sich abzeichnen­den Leistungsr­ückgangs. Mit unüblicher Deutlichke­it las ein internatio­nales OECD-Expertente­am der schwedisch­en Bildungspo­litik die Leviten und forderte Schweden auf, bei der Rekrutieru­ng der Schülersch­aft für die einzelnen Schulen der sozialen Segregatio­n entgegenzu­wirken und für eine Rekonstruk­tion einer förderlich­en Lernkultur an allen Schulen zu sorgen. Schweden hat für seine neoliberal­istische Bildungspo­litik von der OECD die gebührende Watschn erhalten. Auch Österreich sollte die OECD um eine Länderprüf­ung ersuchen, angesichts der zu erwartende­n Beurteilun­g seines „Erfolgsmod­ells“aber damit rechnen, dass beide Wangen etwas abbekommen.

KARL HEINZ GRUBER ist Altordinar­ius für vergleiche­nde Erziehungs­wissenscha­ft an der Universitä­t Wien.

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Was sich auf den Fluren der österreich­ischen Schulen abspielt, ist nicht immer schön und fast nie effizient. Zu oft wird der argumentat­ive Notausgang benützt.
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Foto: privat K. H. Gruber: Die Gesamtschu­le ist nicht teurer.

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