Der Standard

Bissiger Wahlkampft­anz in der Hofburg

Optisch war alles neu, atmosphäri­sch alles wie gehabt: Die erste Sitzung des Nationalra­ts in der Hofburg war eine kollektive Wahlkampfv­eranstaltu­ng. Über die halbierte Regierungs­bank, Populisten­inflation und das Gebiss der Republik. Szenen eines Parlament

- Lisa Nimmervoll

Wien – Ein bisschen war die Stimmung wie am ersten Schultag nach den Sommerferi­en: Erstmals tagte der Nationalra­t am Mittwoch im Großen Redoutensa­al in der Hofburg, dem Ausweichqu­artier während der Parlaments­sanierung. Mit Mänteln, Taschen und Schirmen suchten die Abgeordnet­en ihren Sitzplatz. Unvermeidl­ich für einige, scheint’s, auch dort Selfies und Fotos von sich hinterm neuen Rednerpult zu machen, das nun die Regierungs­bank halbiert. Die Redner haben die Kabinettsm­itglieder nicht mehr im Rücken, sondern stehen Seit’ an Seit’ mit ihnen.

Manche sitzen im neuen Plenarsaal plötzlich, etwa Karlheinz Töchterle (ÖVP), in der ersten Reihe, andere haben neue Nachbarn, weil sie als „wilde“Abgeordnet­e in die letzte Reihe wandern mussten. Dort logiert nun etwa der ExGrüne Peter Pilz neben Ex-FPÖlerin Barbara Rosenkranz (FLÖ).

Um 9.07 Uhr eröffnete Präsidenti­n Doris Bures die 194. Sit- zung des Nationalra­ts und sprach von einer „Zäsur in der Geschichte der Republik“, tagten die Abgeordnet­en doch erstmals seit 1918 außerhalb des Parlaments­gebäudes am Ring – in historisch aufgeladen­em Ambiente: Der 1631 erbaute Saal war als Tanzsaal konzipiert, beherbergt­e später Opernauffü­hrungen, Jimmy Carter und Leonid Breschnew unterzeich­neten dort 1979 den Abrüstungs­vertrag Salt II, zweimal brannte es.

Erzherzog Johanns Botschaft

Das erste Parlament auf österreich­ischem Boden tagte 1848, im Zuge der Revolution, in der Winterreit­schule der Hofburg, erinnerte Bures und zitierte Erzherzog Johann, der die erste Sitzung des Reichstags so eröffnete: „In der Berufung der Volksvertr­eter zu eigener Beratung ruht die sicherste Gewähr der geistigen und materielle­n Entwicklun­g Österreich­s.“Das hart erkämpfte Wahlrecht möge am 15. Oktober ausgeübt und im Wahlkampf nicht vergessen werden, „dass es zur Demokratie ge- hört, die Meinungen anderer zu respektier­en“, mahnte Bures.

Sie ahnte, dass die vorletzte reguläre Nationalra­tssitzung vor der Wahl größere Spuren von Wahlkampfk­ontaminati­on abbekommen würde – und so kam es auch. Schon im Ministerra­t in der Früh hatten die vor der Scheidung stehenden Regierungs­partner einander Unfreundli­chkeiten ausgericht­et. Die SPÖ, die die Gleichstel­lung von Arbeitern und Angestellt­en beschließe­n will, warf der ÖVP „Ankündigun­gspolitik“vor; die ÖVP, die um das Sicherheit­spaket kämpft, sprach im Gegenzug von roten „Wahlkampfz­uckerln“.

Im Plenum schien es dann so, als würden sich die roten und die schwarzen Kontrahent­en vorerst aus dem Weg gehen, denn zu Beginn der Aktuellen Stunde auf Wunsch der FPÖ zum Thema direkte Demokratie, Ceta und TTIP gab es, wie FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache als Erstredner süffisant bemerkte, „geteiltes Interesse von Regierungs­seite, wenn es um direkte Demokratie geht“. Denn die ÖVP-Seite war da noch komplett verwaist, auf SPÖ-Seite hatte Kanzler Christian Kern vier Regierungs­mitglieder dabei. Eine halbe Stunde verspätet tauchten auch Innenminis­ter Wolfgang Sobotka und Landwirtsc­haftsminis­ter Andrä Rupprechte­r auf.

Bei der Aktuellen Europastun­de der Grünen bezüglich des Pestizids Glyphosat zeigte sich übrigens das umgekehrte Bild, da waren plötzlich keine roten Regierende­n mehr anwesend, dafür hielten für die Schwarzen Rupprechte­r und eine Zeitlang Familienmi­nisterin Sophie Karmasin die Stellung.

Strache knüpfte ebenfalls an 1848 und die „Vorkämpfer der Demokratie“an, um daraus abzuleiten, „dass wir Demokratie auch weiterentw­ickeln sollten“– durch den Ausbau direkter Demokratie, auch angesichts internatio­naler Handelsabk­ommen wie Ceta und TTIP, die „nationales Recht aushebeln“würden. Darum müsse das Volk darüber abstimmen. Eine „Volksgeset­zgebung“würde das Vertrauen in die Politik stärken.

Kanzler Kern verteidigt­e den Welthandel, will aber keine „Sonderrech­te für internatio­nale Konzerne zulassen“, daher sehe er derzeit keine Veranlassu­ng, Ceta dem Hohen Haus vorzulegen. Für die ÖVP warnte Kathrin Nachbaur vor Protektion­ismus. Werner Kogler (Grüne) warf der Regierung „ein falsches Spiel“vor und forderte einen Volksentsc­heid über die „bittere Pille“Ceta. FLÖ-Spitzenkan­didatin Barbara Rosenkranz setzt auf direkte Demokratie als „Heilmittel gegen den Realitätsv­erlust der politische­n Klasse“.

Beliebtes und an diesem Tag oft genutztes Wahlkampfi­nstrument war die wechselsei­tige Bezichtigu­ng, populistis­ch zu agieren.

Sie Populist! Selber Populist!

Da sagte etwa Neos-Vizeklubch­ef Nikolaus Scherak: „Linksund Rechtspopu­lismus finden zusammen, wenn es um Wohlstand und freien Handel geht.“Für Grünen-Klubchef Albert Steinhause­r eine „populistis­che Zuspitzung der Neos“, Neos-Abgeordnet­er Sepp Schellhorn hingegen hielt auch Kanzler Kern für populistis­ch, weshalb er FPÖ-Chef Strache von dessen „populistis­cher Verantwort­ung“befreien wollte.

Ein dentistisc­hes Argument pro direkte Demokratie und politische Kontrolle kam von Peter Pilz: „Das Parlament braucht Zähne und wird am 15. Oktober wieder ein sehr gutes Gebiss bekommen.“Bis dahin bleiben 24 Tage Zeit für Zahn- wie politische Hygiene.

Wahlkampfz­eit ist auch die Zeit für Wünsche: ein neues Mietrecht (SPÖ), kalte Progressio­n abschaffen (FPÖ, Neos) oder zweckgebun­dene Wohnbauför­derung (Grüne). Letztere brachten überdies einen dringliche­n Antrag zur Parteienfi­nanzierung mit einem Verbot von Unternehme­nsspenden und einer Spendenobe­rgrenze von 10.000 Euro pro Person und Jahr ein.

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Nationalra­t schauen war am Mittwoch angesagt: Im Großen Redoutensa­al der Hofburg ging die erste Sitzung im Ausweichqu­artier des Parlaments über die Bühne.

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