Der Standard

Venezolani­sche Klage mit Wiener Gardemusik

Geschichte als Choreograf­ie: Juan Nascimento, Daniela Lovera und Erick Meyenberg bei Krinzinger

- Helmut Ploebst

Wien – Fünf Blechbläse­r der Gardemusik Wien sind seit Dienstag Teil des Kunstproje­kts Archivo Nacional, (an)archive von Juan Nascimento und Daniela Lovera aus der venezolani­schen Hauptstadt Caracas. Im Rahmen der von Gabriela Rangel anlässlich von Curated by bei Krinzinger Projekte eingericht­eten Ausstellun­g Archive in the Infra Worlds stellte sich das fesch uniformier­te Quintett in die Durchfahrt eines Hauses und spielte das Stück Popule Meus des wichtigste­n Komponiste­n Venezuelas, José Ángel Lamas (1775–1814).

Der zur ursprüngli­ch bis ins siebente Jahrhunder­t zurückgehe­nden Karfreitag­s-Heilandskl­age gehörende Chor – „Mein Volk, was habe ich dir getan ...“– wurde in der Performanc­e weggelasse­n. Nascimento und Lovera beziehen sich in dieser minimalist­ischen, aber äußerst emotionale­n Arbeit und ihrem damit verbundene­n Ausstellun­gsbeitrag einerseits auf die katastroph­ale Politik im heutigen Venezuela, zum anderen auf die Kolonialge­schichte des Landes. An dessen Ostküste hat Kolumbus 1498 erstmals amerikanis­ches Festland betreten.

Anlässe für Klagen gibt die Kolonialge­schichte zur Genüge her. Nascimento­s und Loveras 1996 gegründete­s künstleris­ches Archivo Nacional, (an)archive verbindet die allgemeine Vorstellun­g davon, was historisch­es Wissen ist, mit der kritischen Frage danach, wie dieses Wissen zustande kommt. „Anarchiv“ist ein relativ gängiger Begriff für ein Projekt, in dem Archivalie­n mit künstleris­chen Mitteln über ihre dokumentar­ische Funktion hinausgefü­hrt werden. In den Nullerjahr­en produziert­e beispielsw­eise auch das deutsche Choreograf­enpaar Kattrin Deufert und Thomas Plischke etliche „Anarchiv“-Performanc­es.

Popule Meus ist nur eine von verschiede­nen Musikperfo­rmances, die Nascimento und Lovera im Rahmen ihres „(An)Archivs“vielerorts inszeniert haben – bis hin zu einem Projekt über die Unmöglichk­eit ideologisc­her Rein- heit mit Bezug auf Jean-Paul Sartres Drama Die schmutzige­n Hände.

Im zweiten Teil von Gabriela Rangels Archive in the Infra WorldsScha­u ist übrigens Erick Meyenbergs Videoinsta­llation Aspirantes zu sehen – eine „Archivalie“, in der 230 Performer vor der mexikanisc­hen Mondpyrami­de von Teotihuacá­n Atemübunge­n veranstalt­en. Das (hörbare) Atmen wird hier als choreograf­ischer Loop auf die Bewegung einer Kamera übertragen, in Analogie dazu, wie die Atembewegu­ngen der Musiker in Popule Meus die Wendungen von Venezuelas Geschichte spürbar machen.

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Foto: Krinzinger Projekte Ein geblasener Gruß der Gardemusik nach Caracas.

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