Die Zahl Null ist älter als angenommen
Das revolutionäre Konzept der Null als eigenständige Zahl ist der indischen Mathematik zu verdanken. Nun brachte die Datierung einer Handschrift eine Überraschung ans Licht: Die indische Null ist 500 Jahre älter als gedacht.
Oxford/Wien – Es war zweifellos einer der größten Durchbrüche in der Geschichte der Mathematik: die Erfindung der Null als eigenständige Zahl, mit der man rechnen kann. Zwar verwendeten schon die Babylonier einen Platzhalter dafür, wenn etwa zwei gleiche Zahlen voneinander subtrahiert wurden – gerechnet wurde damit aber nicht.
Die Maya hatten hingegen schon ein eigenes Zeichen für Null (das entfernt an eine Muschel erinnert), dieses dürfte jedoch eher eine mystische denn mathematische Bedeutung gehabt haben und wurde ebenfalls nicht zum Rechnen verwendet. In der ägyptischen und römischen Mathematik kam man ohne Null aus.
Die Entdeckung des bahnbrechenden Konzepts ist den Indern zu verdanken: Im indischen Zahlensystem wurde ein Punkt als Platzhalter und Stellenwertangabe verwendet, aus dem sich schließlich die bauchige 0 entwickelte. „Dividiert man irgendeine Zahl durch das Nichts, so wird Unendlichkeit“, schrieb der Astronom und Mathematiker Brahmagupta im siebten Jahrhundert – und veränderte die Welt. Doch wann tauchte die Null in Indien zum ersten Mal auf? Als ältester dokumentierter Beleg gilt das Bakhshali-Manuskript, benannt nach seinem Fundort im heutigen Pakistan. Dort wurde im Jahr 1881 in einem Feld eine auf Birkenrinde verfasste Sammlung mathematischer Schriften entdeckt.
Datierung einer Revolution
Das rund 70-seitige Manuskript, das von verschiedenen Autoren verfasst worden sein muss, enthält eine Reihe mathematischer Regeln und praktischer Beispiele – das Zielpublikum könnten möglicherweise Händler der Seidenstraße gewesen sein. Von wann dieser Text aber stammt, war bislang umstritten. Die meisten zeitlichen Einordnungen bewegen sich zwischen dem siebten und dem zwölften Jahrhundert.
Forscher der University of Oxford untersuchten das Manuskript nun mithilfe der Radiokarbonmethode und kamen zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die Sammlung ist deutlich älter als bisher angenommen. Das älteste der untersuchten Birkenblätter, auf dem auch der Null-Punkt vorkommt, stammt aus dem zweiten bis vierten Jahrhundert.
„Ich bin völlig verblüfft, wie alt es tatsächlich ist, das ist sehr unerwartet“, sagte der Mathematiker Marcus du Sautoy von der Univer- sity of Oxford. „Damit muss auch die Geburt der Null als eigenständiges mathematisches Konzept vordatiert werden.“
Die Revolution blieb aber zunächst geografisch beschränkt: Erst Jahrhunderte später übernahmen arabische Mathematiker die indische Null und entwickelten sie weiter, ehe sie dann im Mittelalter auch in Europa auftauchte, wogegen sich zunächst allerdings kirchlicher Widerstand regte.
Wer die Urheber der Schriften von Bakhshali waren, bleibt indes ungewiss. Zwei weitere nun datierte Blätter sind du Sautoy zufolge deutlich jünger: Sie stammen aus dem siebten bis achten und aus dem zehnten Jahrhundert.