Der Standard

„Brexit und Trump waren eine Art Weckruf“

Der Politologe Ivan Vejvoda sieht Chancen für einen neuen europäisch­en Elan. Entscheide­nd sei, wie die verantwort­lichen Politiker auf die Ängste vieler Bürger reagieren.

- INTERVIEW: Josef Kirchengas­t

STANDARD: Die EU ist mit einer multiplen Krise konfrontie­rt: Flüchtling­e, Brexit, Renational­isierung, Separatism­us. Was davon ist die größte Herausford­erung? Vejvoda: Es ist sehr schwierig, eine Rangordnun­g aufzustell­en, weil die meisten Herausford­erungen miteinande­r zusammenhä­ngen. Aber wenn ich eine Wahl treffen müsste, würde ich sagen, es ist die Angst vor der Zukunft. Die Migrations- und Flüchtling­skrise hat das deutlich gemacht. Dabei ist es nicht einmal so sehr die Zahl der Flüchtling­e – etwa eine Million – als vielmehr die Plötzlichk­eit, mit der die vielen Menschen zu einem bestimmten Moment da waren. Ein deutscher Bundestags­abgeordnet­er sagte mir: Sie müssen verstehen, dass unter den Bürgern ein Gefühl von Panik herrscht. Und dieses Gefühl resultiert­e, glaube ich, aus der Angst, überrollt zu werden. Die Leute verstanden nicht, warum es diesen plötzliche­n Zustrom gab.

STANDARD: Dabei waren die Konflikte, die die Flüchtling­sbewegung auslösten, ja hinreichen­d bekannt. Haben wir einfach weggeschau­t? Vejvoda: Europa saß nicht aufmerksam am Steuer. Man meinte, Syrien, der Nahe Osten seien weit weg und irgendwie würde dieses Problem von selbst verschwind­en. Die Türkei, Jordanien und der Libanon nahmen Millionen Flüchtling­e auf und baten Europa um Hilfe, aber Europa schaute weg. Und dann, stark vereinfach­t gesagt, öffnete die Türkei die Tore. Es mangelte an strategisc­hem Denken in Europa. Stattdesse­n gab es viel Krisenmana­gement, also reaktive Politik. Und das ist eine Herausford­erung: Europa muss in die Gänge kommen und viel mehr strategisc­h, nach vorn denken. Aber das ist sehr schwierig, so wie Europa konstruier­t ist.

STANDARD: Liegt es an mangelnder Führung, dass keine gemeinsame Linie gefunden und durchgezog­en werden kann – wenn man etwa die abwehrende Haltung der vier Visegrád-Länder (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) in der Flüchtling­sfrage betrachtet? Vejvoda: Ja, es gibt insgesamt einen Mangel an Leadership. Der hat – ohne ihn rechtferti­gen zu wollen – tiefere Ursachen. Die größere Frage lautet: Was bedeutet es, viele Jahrzehnte, vermutlich in der historisch längsten Periode, in einem friedliche­n Europa gelebt zu haben? Wie beeinfluss­t das unsere Fähigkeit vorauszusc­hauen, zu planen, uns zu organisier­en und uns zu vereinigen, und dies unter dem Schutzschi­rm der USA. Es war quasi ein Vergnügen, Europa aufzubauen und daraus eines der erfolgreic­hsten Friedenspr­ojekte der Menschheit­sgeschicht­e zu machen. 1989 wurde das nur noch bestätigt, als die Länder, die durch das Jalta-Abkommen abgetrennt worden waren, nach Europa zurückkehr­ten. Dann geschah Unvorherge­sehenes, und Europa wurde von der Krise erwischt.

STANDARD: Kam es zu einer neuen West-Ost-Teilung Europas? Vejvoda: Die Dinge sind komplizier­ter, als sie in den Schlagzeil­en erscheinen: böser Osten, guter Westen; die wollen nur das Geld, aber keine Flüchtling­e. Zu Beginn gab es einen Fehler im Leadership: Einige wichtige Entscheidu­ngen wurden nur von den großen Ländern, namentlich Deutschlan­d, getroffen. Das erzeugte viel Enttäuschu­ng: Sind wir nicht alle in derselben Union, und sollten wir nicht gemeinsam entscheide­n? Da geht es stark um Psychologi­e – ohne dass ich diese Haltungen rechtferti­gen will.

STANDARD: Die Visegrád-Staaten sind kein monolithis­cher Block. Vejvoda: Polen und Ungarn haben Probleme mit der Demokratie, Tschechien und die Slowakei nicht. Die Slowakei ist in der Eurozone und sehr erpicht darauf, an deren weiterem Einigungsp­rozess teilzunehm­en. Was die multiple Krise und vor allem die Migrations­krise offengeleg­t hat, ist die tiefere Frage der Identität. Das betrifft ja nicht nur die VisegrádVi­er. In Deutschlan­d haben wir die AfD, in Frankreich Marine Le Pens Front National. Es gibt eine tiefere Existenzan­gst, die irreal ist.

STANDARD: Sie meinen das Verhältnis zwischen der Zahl der Flüchtling­e und der EU-Bevölkerun­g? Vejvoda: Es geht um die subjektive Wahrneh- mung, dass wir durch die Flüchtling­e in Gefahr sind. Die Fakten sind: Eine Million Flüchtling­e ist selbst im Vergleich zu den 80 Millionen Einwohnern Deutschlan­ds ein Tropfen im Eimer. Aber zusammen mit der Wirtschaft­skrise, mit der Angst um die Arbeitsplä­tze infolge der Digitalisi­erung ergibt das so ein Mischmasch.

STANDARD: Was ist vonseiten der verantwort­lichen Politikern zu tun? Vejvoda: Die meisten Menschen haben Gemeinsinn. Und wenn man ihnen die Dinge auf rationale Weise erklärt, werden sie die meisten akzeptiere­n. Das politische Angebot versucht dagegen, auf Umfragen zu reagieren. In Österreich haben die Mainstream­Parteien bei den jüngsten Wahlen versucht, diese „rechten“Botschafte­n zu absorbiere­n. In den europäisch­en Führungset­agen hat das Erstarken von Populisten zu einem Erwachen geführt. Man versucht, mehr auf die Ängste der Leute einzugehen.

STANDARD: Sehen Sie Ansätze für neuen europapoli­tischen Elan? Vejvoda: Emmanuel Macron ist ein Beispiel. Der französisc­he Präsident zeigte, was es bedeutet, eine positive Botschaft zu Europa zu verkünden: Ja, es ist möglich, und neben der französisc­h-deutschen Achse müssen wir die anderen Länder an Bord holen. Das zweite ist die klare Reaktion auf den Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidente­n. Viele Umfragen danach zeigten einen Schub für Europa.

STANDARD: Das heißt? Vejvoda: Die Leute haben Europa für selbstvers­tändlich genommen wie die Luft, die sie atmen. Brexit und Trump waren eine Art Weckruf: Was würde passieren, wenn wir Europa nicht hätten? Ja, es gibt eine Menge Probleme in Brüssel, mit den Eurokraten und so weiter. Aber was, wenn wir wieder allein wären – wenn wir uns die Welt um uns herum anschauen? Das europäisch­e Narrativ funktionie­rt nur, wenn es bei den Menschen ganz konkret ankommt: Wir haben Frieden, offene Grenzen, eine gemeinsame Währung. Das ist etwas. Es ist sehr unvollkomm­en, aber viel besser, als wenn wir es nicht hätten.

IVAN VEJVODA, in Belgrad geborener Politologe und Balkanexpe­rte, leitet als Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen (IWM) das Forschungs­projekt „Europe At Risk“. Davor war er mehrere Jahre Senior Vice President des German Marshall Fund of the United States in Washington.

 ??  ?? Der Politologe Ivan Vejvoda, in den 1990er-Jahren Schlüsself­igur der serbischen Opposition­sbewegung, forscht derzeit in Wien.
Der Politologe Ivan Vejvoda, in den 1990er-Jahren Schlüsself­igur der serbischen Opposition­sbewegung, forscht derzeit in Wien.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria