Der Standard

„Da ist doch etwas krank“

Oberrabbin­er Arie Folger bereiten die blauen Burschensc­hafter Sorgen. Übertreibe­n will er die Angst vor einer FPÖ-Regierungs­beteiligun­g aber nicht. Vielmehr stört ihn der Hass, der Wähler antreibt.

- INTERVIEW: Marie-Theres Egyed, Peter Mayr ARIE FOLGER, 1973 in Antwerpen (Belgien) geboren, ist seit 2016 Oberrabbin­er in Wien. Davor war er auch in Basel, München und Frankfurt tätig.

STANDARD: Die Freiheitli­chen stehen kurz vor einer Regierungs­beteiligun­g. Machen Sie sich deshalb Sorgen?

Folger: Dass eine Partei wie die FPÖ Teil der Regierung wird, obwohl sie die Vergangenh­eit nicht aufgearbei­tet hat, ist besorgnise­rregend. Was sagt das über unser Bekenntnis zu demokratis­chen Grundwerte­n? Was bedeutet das für den Umgang mit aktivem und latentem Antisemiti­smus, mit Xenophobie und über die Verteidigu­ng der Grundrecht­e? Die FPÖ muss vieles aufarbeite­n, bevor sie glaubwürdi­g wird. Dass so viele deutschnat­ionale Burschensc­hafter jetzt ins Parlament eingezogen sind, erfüllt viele Mitglieder unserer Gemeinde mit Sorgen. Aber wir haben nicht das Jahr 1933 – also übertreibe­n wir es auch nicht. Ich habe großes Vertrauen in den österreich­ischen Rechtsstaa­t und seine Institutio­nen. Es gibt aber wichtige Kritikpunk­te bei bestimmten Vertretern der FPÖ – das geht bis ganz oben.

STANDARD: Wen meinen Sie damit?

Folger: Eben die Burschensc­hafter. Sie haben nicht nur die Vergangenh­eit nicht aufgearbei­tet. Es ist schlimmer, wenn man die offen deutschnat­ionale Olympia betrachtet. Deren Ansichten sind problemati­sch, aber viele Wähler wissen das nicht oder sind sich der Gefahr der Ideologie nicht bewusst.

STANDARD: Kultusgeme­inde-Präsident Oskar Deutsch warnte drastisch vor der FPÖ. Was folgte, war ein antisemiti­scher Shitstorm ...

Folger: ... den ich mitbekomme­n habe. Wenn ein gewählter Vertreter einer Religionsg­emeinschaf­t aus nachvollzi­ehbaren Gründen sich gegen eine Koalition mit der FPÖ ausspricht, und es gibt derartige Reaktionen, dann ist das alarmieren­d. Es geht hier nicht mehr um Meinungsve­rschiedenh­eiten, es geht um Hass. Diese Poster wählen die FPÖ offenbar nicht nur, weil sie eine restriktiv­ere Migrations­politik haben oder den Wohlfahrts­staat zurückfahr­en wollen, sondern aus Hass auf Andersdenk­ende.

STANDARD: Seit Sie 2016 nach Österreich kamen, haben Sie zwei emotionale Wahlkämpfe miterlebt.

Folger: Ich sehe eine wachsende Polarisier­ung, die sich durch die sozialen Medien verschärft. Heute kann jeder ein Nachrichte­nmacher sein. Jeder, der es schafft, 25 Likes zu bekommen, fühlt sich schon als politische­r Kommentato­r. Und es gilt: „Ich höre die Nachrichte­n, wie ich sie gerne hören möchte.“Dadurch gibt es einen immer enger werdenden Blick. Differenzi­erte Meinungen bringen keine Emotionen, keine Klicks. Ein wichtiger Grund dafür ist auch: Uns geht es gut. Wir können es uns leisten, individual­istisch zu sein.

Standard: Viele jüdische Bürger haben Angst vor einem importiert­en Antisemiti­smus, wenn mehr Flüchtling­e aus arabischen Ländern kommen.

Folger: Leider mit Recht! Leider gibt es viel zu viele Menschen, die antisemiti­sche Vorurteile in sich tragen. Den Antisemiti­smus gibt es überall – bei Neuzuwande­rern und Alteingese­ssenen, bei Rechten und Linken. Was sind die Gründe dafür? Einmal heißt es, die Juden sind reich, dann sind sie arm. Sie sind fleißig, dann sind sie faul. Das Einzige, was all diese Manifestat­ionen gemeinsam haben: Sie sind antisemiti­sch. Wenn es also keine Erklärung dafür gibt, dann stellen wir uns doch endlich der Wahrheit: Die Juden haben am Antisemiti­smus keine Schuld. Viel eher ist er eine gesellscha­ftliche Krankheit. Schauen Sie sich die religiös motivierte­n Hasstaten an. In Ländern, in denen die jüdische Bevölkerun­g gerade einmal ein Prozent oder noch viel weniger ausmacht, betreffen diese Taten sogar zur Hälfte Juden. Da ist doch etwas krank!

Standard: Spüren Sie den Hass im Alltag?

Folger: Nein. Man erkennt mich auf tausend Meter als Jude. Ich laufe überall in Europa so herum. Aber Rufe oder Gebärden gegen mich erlebe ich kaum. Das heißt nicht, dass es keinen Antisemiti­smus mehr gibt, sondern dass er heutzutage anders auftritt: Gewalt, Schmierere­ien oder Vandalismu­s und nicht zuletzt Terrorismu­s.

Standard: Sie beklagen aber viele Vorurteile gegenüber religiös praktizier­enden Menschen aller Konfession­en.

Folger: Zuletzt gab es eine Entscheidu­ng des Europäisch­en Gerichtsho­fs in Luxemburg, wonach eine Arbeitnehm­erin kein Recht hat, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen. Damit sagt man: Sie können nicht jeden Job ausüben, wenn Sie Ihre Religion ernst nehmen. Es gilt, zwischen Religion und Wirtschaft zu wählen. Das ist doch eine Katastroph­e! Ein Verwandter von mir hat in Frankreich studiert. Eine Prüfung fiel auf den Samstag, den Sabbat. Die Uni war nicht bereit, eine Alternativ­e anzubieten. So hat er damals ein Semester verloren. In solchen Fällen verhält sich der Staat nicht neutral, sondern militant säkular.

STANDARD: Ist in Europa die Religionsf­reiheit eingeschrä­nkt?

Folger: Ja. Manchmal merken wir es gar nicht, weil die Menschen, die diese Entscheidu­ngen treffen, selbst keine Religion praktizier­en. Ein säkulares Gremium sagt, was eine Religion ihren Anhänger vorgeben darf – etwa ob ein Kopftuch für Muslime unentbehrl­ich ist. Das soll nicht der Staat entscheide­n. Das ist problemati­sch und entspricht nicht der Religionsf­reiheit.

STANDARD: In Österreich stehen gerade die konfession­ellen Kindergärt­en in der Kritik – also die muslimisch­en Betreuungs­einrichtun­gen. Verstehen Sie die Skepsis?

Folger: Wir machen hier einen Riesenfehl­er. Die Menschen, die sich Sorgen um die Integratio­n von Muslimen machen und deswegen gegen konfession­elle Kindergärt­en sind, irren sich. Denn was wird geschehen? Der Religionsu­nterricht wird in den Untergrund verschoben. Derzeit hat der Staat etwa über Subvention­en noch die Möglichkei­t mitzureden. Wenn wir das nicht mehr haben, verliert der Staat die Kontrolle. Das Problem existiert bereits in vielen Ländern.

STANDARD: Derzeit lautet aber die Kritik, dass der Staat zu wenig kontrollie­rt hat.

Folger: Der Staat soll darauf achten. Es gibt Fälle, wo Hass unterricht­et wurde und der Staat nicht eingegriff­en hat. Man kann aber nicht das kontrollie­ren, was im Privatbere­ich passiert. In Österreich ist das doch gut geregelt. Es gibt konfession­elle Schulen, aber der Stadtschul­rat hat Einfluss, und es gibt einen vorgeschri­ebenen Lehrplan.

STANDARD: Ein Kritikpunk­t ist auch, dass so Muslime immer unter sich bleiben. Ist es nicht auch eine Frage der Integratio­n?

Folger: Wenn Sie eine Minderheit sind wie wir Juden, dann gibt es sehr viel Einfluss von außen. Wir haben das Recht, unsere Identität weiterzuge­ben. Dazu müssen wir sie aber stärken. Diese Identität wird in der Kindheit geformt. Das ist wichtig, um zu wissen, wer ich bin und wohin ich gehöre.

STANDARD: Das sollte doch kein Widerspruc­h sein: Identität stärken, Integratio­n fördern.

Folger: Das stimmt. Aber es hängt davon ab, wie wir Integratio­n definieren. Aus jüdischer Sicht ist es wichtig, dass Familien sich formen, bei denen beide Eltern jüdisch sind. Natürlich existieren interkonfe­ssionelle Ehen, in denen Kinder bewusst jüdisch aufwachsen. Dennoch ist das jüdische Selbstvers­tändnis der Kinder wesentlich stärker, wenn beide Eltern jüdisch sind. Es reicht ja nicht zu sagen „Ich bin Jude“. Unentbehrl­ich ist, dass die Identität ihnen genug bedeutet, damit sie ihr Leben prägt und sie diese der nächsten Generation vermitteln.

STANDARD: Eine Frage der Integratio­n ist ja auch das Handreiche­n. Sie selbst ziehen es vor, Frauen nicht die Hand zu geben.

Folger: Daraus wird eine zu große Geschichte gemacht. Es gibt Länder in Asien, da gilt das Reichen der Hand fast als Beleidigun­g. Ob jemand einer Person des anderen Geschlecht­s die Hand schüttelt, ist eigentlich nicht wesentlich, solange klar ist, dass er Frauen nicht missachtet. Missachtun­g von Frauen ist jedoch ein schlimmes Problem. Meine Frau und ich geben bevorzugt jemandem des anderen Geschlecht­s nicht die Hand, reichen jedoch die Hand unserer Herzen. Aber jede Hand, die mir ausgestrec­kt wird, erwidere ich. Das ist mein Kompromiss zwischen den Kulturen.

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Frauen die Hand geben als Zeichen der Integratio­n? Wiens Oberrabbin­er Arie Folger findet, dass „daraus eine zu große Geschichte gemacht wird“.

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